Der Kuss Im Kristall
wollen.“
Als sie die Augen wieder aufschlug, räusperte er sich. Dann beugte er sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. „Ich beneide Sie, Miss Lovejoy. Ich würde jeden Preis für angenehme Erinnerungen zahlen.“
Keinen Moment lang bezweifelte sie, dass er damit auf seine Frau und seinen Sohn anspielte. Was sollte sie sagen? Wie sollte sie seinen Schmerz lindern? „Bitte, McHugh, geben Sie sich etwas Zeit. Irgendwann …“
„Irgendwann wird der Schmerz vergehen?“, spottete er. Dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er wird dann vergehen, Miss Lovejoy, wenn diejenige ihre Schuld bezahlt, die für das Ganze die Verantwortung trägt. Ich werde sie finden, und wenn mir das gelungen ist, dann werde ich ihr in aller Öffentlichkeit die Maske herunterreißen, sodass jeder sie als die Betrügerin erkennen wird, die sie ist.“
Alethea nickte, auch wenn sich alles in ihr verkrampfte. Fieberhaft dachte sie darüber nach, wie sie ihn von diesem Thema ablenken konnte. „Wie – wie geht es Ihrem Bruder, Mylord?“
„Douglas geht es gut. Gestern Nacht kehrte er aus Schottland zurück.“
„Oh“, stieß sie hervor und fühlte sich immer mehr in die Enge getrieben. „War er …“
„Erfolgreich?“ McHugh schien ein Experte darin zu sein, ihre Sätze zu vollenden. „Ja und nein. Miss Barlow – jetzt Mrs. Palucci – kehrte nicht mit ihm zurück. Mr. Barlow folgt derzeit dem frisch verheirateten Paar. Douglas versucht zu retten, was noch von seinem Stolz übrig geblieben ist.“
„Oh …“
„Miss Lovejoy, wissen Sie irgendetwas über Madame Zoe?“
Ihr Herz schlug schneller. „Äh, wer – das heißt, warum glauben Sie – ich meine …“
„Warum ich Sie frage?“, unterbrach er sie. „Weil Sie und Ihre Tante Grace über alles Bescheid wissen, was die Gesellschaft betrifft.“
„Oh. Nun, ich weiß, dass sie Wahrsagerin ist. Und dass einige der einflussreichsten Leute in London ihren Salon besuchen.“
„Haben Sie sie jemals konsultiert, Miss Lovejoy?“
Sie spürte, wie sie errötete. „Ich – ja. Ein Mal vor langer Zeit sagte sie mir die Zukunft vorher.“
„War es gut? Ist eingetroffen, was sie gesagt hatte?“
„Ich kann mich nicht genau an den Inhalt ihrer Worte entsinnen.“ Aber sie entsann sich recht genau jenes regnerischen Sommertags. „Wir – ich hielt es für ein Salonspielchen. Etwas, das man nicht ernst nehmen muss. Es erstaunt mich, dass das überhaupt jemand tut.“
„Das ist sehr vernünftig von Ihnen.“ Er lächelte und beugte sich so weit zu ihr vor, dass ihr ein wenig schwindelig wurde. „Aber Ihre Vernunft ist nur eine von zahlreichen Eigenschaften, die ich an Ihnen so bewundernswert finde.“
Sie schluckte schwer und hatte keine Ahnung, was sie auf ein so unverblümtes Kompliment erwidern sollte. „Wirklich, Lord Glenross, ich denke …“
„Denken Sie nicht, Alethea“, flüsterte er und kam noch näher.
Alethea? Oh, wie süß ihr Name aus seinem Munde klang. Als er zart mit den Lippen ihre berührte, war dieser Kuss ganz anders als die Küsse zuvor. Es lag weder Provokation noch Wildheit darin. Er war sanft, eine Liebkosung, ein Versprechen auf das, was noch kommen würde. Dieser Kuss zeigte McHughs Verletzlichkeit. Nach allem, was sie erfahren, wovor Sir Martin sie gewarnt hatte – wie konnte sie zulassen, dass McHugh sich selbst täuschte? Beinahe brach ihr das Herz bei dem unaussprechlichen Schmerz über das, was er verloren hatte. Was sie verloren hatte.
Die Kutsche kam zum Stehen, ihre Lippen lösten sich voneinander, und verlegen über die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, presste Alethea eine Hand an Robs Brust, um ihn auf Distanz zu halten. „Bitte, McHugh. Tun Sie sich das nicht an. Sie wissen, dass nichts daraus werden kann.“
Er wich zurück, als hätte sie ihn geschlagen. „Nichts also? Nun gut, Miss Lovejoy. Man soll nicht sagen, ich würde betteln.“
Er stieß die Kutschentür auf und stieg hinaus. Dann reichte er Alethea die Hand. Er wartete noch, bis sie die Tür zu Graces Haus erreicht hatte, dann stieg er wieder in die Droschke ein und fuhr ohne ein weiteres Wort davon.
Lady Annica, Charity und Lady Sarah trafen Alethea und Grace im La Meilleure Robe um zwei Uhr am nächsten Nachmittag. Madame Maries rundliche Assistentin führte sie in den hinteren Ankleideraum, wo Mr. Renquist sie bereits erwartete. Der Teetisch war liebevoll gedeckt, und Madame Marie hatte eine dampfende
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