Der Kuss
Lukas leise, aber Michael konnte es dennoch deutlich hören. Sein Herz begann heftig zu rasen und er merkte nicht, dass ihm ein Laut entkam, der sich als Echo bis unters Dach fortsetzte. Er presste sich mit dem Rücken gegen die Wand und schloss die Augen, wagte kaum zu atmen. Hatte Lukas
ihn
gemeint?
„Na, geht doch!“, spöttelte Ronnys gemeine Stimme, „Warum nicht gleich!“
Dann quietschten Sohlen und Schritte näherten sich im Laufschritt, während die Haustür ins Schloss fiel. Als Lukas um die Ecke kam und Michael entdeckte, riss er erschrocken die Augen auf.
„Du hast …
gelauscht?“,
stieß er fassungslos hervor. Er wirkte kleiner als sonst, fragil regelrecht. Michael nickte schuldbewusst und seine Ohren glühten. Hatte Lukas seinem
Lover
eben gestanden, dass er … Michael
liebte?
„
Wer
ist hier das Arschloch!“, knurrte Lukas sauer, wandte sich enttäuscht ab und stürzte die Treppen hoch.
„Liebenswert, was?“, rief Michael seinem Freund hinterher, und das Wort hallte wieder und wieder …
'Liebenswert, liebenswert, liebenswert…'
Dann fiel, weit oben im Haus, eine Tür heftig ins Schloss.
Ein unschlagbares Angebot
Seit Michaels Mutter herausgefunden hatte, dass ihr Sohn schwul war, mied sie das Thema tunlichst und er hatte keine Lust, es auszubreiten. Mehr oder weniger war sie am nächsten Tag kommentarlos in den Alltag übergetreten, als wäre nichts geschehen. Als hätte sich für sie rein gar nichts verändert, bloß, dass sie Michael behandelte, als wäre er aus Porzellan, oder krank. Das traf es wohl am ehesten.
Sie stellte zwar nach wie vor Forderungen bezüglich Mithilfe im Haushalt, sie wechselten wie üblich kurze Sätze der Befindlichkeit oder redeten über irgendein Thema aus den Medien, aber stets war da dieser kleine Abstand. Als wäre Michael ein Gast, der voll in die Familie integriert werden und nicht das Gefühl bekommen sollte, diskriminiert, schlechter behandelt zu werden. Sie bezog ihn in den Alltag mit ein, aber tat das immer mit einem Schuss distanzierter Höflichkeit. Fast konnte man meinen, sie habe Angst vor ihm – oder vermutlich ihrer eigenen Unfähigkeit, mit seiner Neigung unverkrampft umzugehen.
Michaels Mutter hatte ihren Sohn dazu überredet, sie auf den Jahrmarkt zu begleiten. Einmal im Jahr wurde die halbe Straße abgesperrt und mit Marktständen gesäumt. Der Parkplatz vor dem Haus wurde in dieser Zeit von einem kleinen Bierzelt und einem Karussell in Beschlag genommen.
In erster Linie boten hier Pakistani ihre Waren an: schwarze Shirts mit diversen Aufdrucken von Bands oder nihilistischen Sprüchen, Sonnenbrillen, Geldbörsen, Halstücher, Lederarmbänder … Den zweiten Platz, im Ranking um die meisten Stände, teilten sich Verkäufer von überteuertem, billigen Plastikspielzeug und Konditoren mit Schaumrollen, türkischen Honig, Zuckerstangen. Sonst gab es noch Esoteriker, die irgendwelche Edelsteine anboten, die angeblich Heilkräfte besaßen, oder penetrante Duftöle und solchen Kram; Künstler, die naive Hinterglasmalerei oder langweilige Specksteinskulpturen – meist Tierfiguren – verkauften; Leute, meist ältere Frauen, die gehäkelte und bestickte Tischtücher, Küchengeräte, Arbeitskittel und … Socken feil boten.
Als Michael ein Kind gewesen war, hatte dieser Jahrmarkt stets den Höhepunkt eines jeden Sommers dargestellt, in erster Linie wegen des Angebots an Spielzeug – damit hatte er seine Mutter in den Wahnsinn getrieben – und natürlich wegen des Karussells. Zudem hatte er gedacht, die Pakistani mit ihren Turbanen wären Beduinen, die mit Kamelen direkt aus der Wüste hierher geritten waren. Später interessierten ihn coole Sonnenbrillen, Taschenmesser und die Möglichkeit, Böller zu erstehen (davon wusste seine Mutter allerdings nichts). In den letzten Jahren aber verlor der Jahrmarkt seine Faszination. Okay, es gab immerhin diese schwarzen Band-Shirts, Lederarmbänder, und Michael hatte dort auch den Totenkopf erstanden, der nun Geschichte war. Im Gegensatz zu seiner Kindheit, in der er sogar dem Auf- und Abbau der Marktstände beigewohnt hatte und jede Stunde, die er nicht da unten sein durfte, Terror gemacht hatte, hielt er sich nun weitgehend davon fern.
Dieses Jahr hätte er am liebsten völlig verzichtet, auch wegen der Befürchtung, Lukas, Ronny oder Lu zu begegnen. Er fühlte sich nicht mehr wohl im Haus, achtete penibel darauf, keinem über den Weg zu laufen. Sogar, wenn er bereits sechs Stockwerke
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