Der Lange Weg Des Lukas B.
Lande, wo einer den anderen kennt. Erst als ich mit einer Hand voll Eisenhüttenarbeitern einen Streik anzetteln wollte, stand ich wieder auf der schwarzen Liste. Ich musste Hals über Kopf fliehen. Noch einmal hat mir der Kaplan aus Xanten geholfen und mir ein Empfehlungsschreiben gegeben. So, sehen Sie, Friedrich Bienmann, bin ich nach Liebenberg gekommen, in ein Dorf an der Grenze von Preußen und Russisch-Polen, wo sich Fuchs und Has Gute Nacht sagen und wo die Straße im Heidesand verläuft.«
»Und wieder nahmen Sie sich vor vorsichtiger zu sein«, sagte der alte Mann. »Und dann sahen Sie, dass auch hier die Welt, so wie Sie sie sich ausmalen, nicht in Ordnung ist.«
»Sie sagen es, Friedrich Bienmann. Viele Bauern sind ganz und gar abhängig von den Gutsherren. Der von Knabig hat zwar auch gern, wenn die Leute seiner Dörfer vor ihm buckeln und nach seiner Hand haschen, um sie zu küssen, aber er lässt sie wenigstens nicht hungern, fördert sogar die Schulen, zahlt pünktlich den vereinbarten Lohn. Irgendwie fühlt er sich wie ein Vater über seine Bauern. Nur käme er nicht auf den Gedanken die Bauern zu fragen, ob sie überhaupt seine Kinder sein wollen. Sie wissen selbst, dass es auch andere Gutsherren gibt als den Baron, bis hin zu denen, die in Berlin ein Leben in Saus und Braus führen und ihre Güter nur dann sehen, wenn sie gelegentlich zur Jagd kommen. Sie setzen einen Verwalter ein. Die Leute sind ihnen nur dann wichtig, wenn das Geld nicht fließt, wie sie sich das dachten.«
»Sie müssen noch von Danzig erzählen, Herr Lehrer«, erinnerte ihn der Junge.
»Ja, das sollte ich. Ich habe in den letzten Nächten Gleichgesinnte in dem Haus eines Freundes getroffen. Wir wollen, dass es in Preußen so kommt, wie es seit 1861 im Königreich Sachsen ist. Dort dürfen sich seitdem die Arbeiter zu Vereinen zusammenschließen.«
»Die Sozis.«
»Ja. Aber fragt der, der hungert, den, der ihm helfen will, ob er eine rote Kappe trägt oder eine schwarze?«
»Warum sind Sie denn heute Morgen mit langer Zunge angehetzt gekommen?«, fragte Mathilde.
»Die Polizei hatte das Haus umstellt. Ich konnte über die Mauer in einen Nachbargarten klettern. Zwar schürfte ich mir an einer scharfen Mauerkante die Hand auf, aber ich entkam.«
»Und Ihre Freunde?«
»Ich weiß es nicht. Die Polizei kam völlig überaschend. Ich nehme an, jemand hat die Versammlung verraten.«
»Na, dann zurück ans Ende der Welt«, rief der alte Mann, »dahin, wo die Straßen aufhören. Los, Luke, treib die Pferde an.«
Der Junge rief laut: »Hüha«, und dabei überschlug sich seine Stimme.
»Er kommt in den Stimmbruch, habt ihr’s gehört! Unser Luke wird allmählich ein Mann.«
»Was heißt hier allmählich, Rotkohl?«, flüsterte der Junge leise, aber Mathilde hatte ihn doch verstanden und trat nach ihm.
Der Winter war drei Wochen früher vorüber als in den Jahren zuvor. Es begann, anhaltend zu regnen. Ein flauer Wind trieb immer neue Wolken vom Meer herüber. Es tropfte, triefte, floss. Der Sandboden, der im Herbst sogar Fluten von Regen begierig aufsaugte, war unter der oberen Schicht noch festgefroren. Die Straßen und Höfe verwandelten sich in Schlammlöcher, über die Äcker und Wiesen breiteten sich riesige Wasserlachen. In diesen Wochen verkrochen sich die Leute in ihre Häuser und beschäftigten sich mit kleinen Arbeiten: Das Lederzeug der Zugtiere wurde ausgeflickt und gefettet, die letzte Wolle versponnen, Holzlöffel geschnitzt, Körbe aus Weidenzweigen geflochten, Daunen gerissen, Netze gestrickt, Ackergeräte instand gesetzt, hundert Kleinigkeiten im Hause repariert. Aber endlich war alles getan und die Menschen warteten ungeduldig auf trockene, wärmere Tage.
In diesem Jahr war der alte Mann von Haus zu Haus gegangen. Er hatte mit den Männern und Frauen besprochen, wie es mit der Amerikafahrt werden sollte. Längst nicht alle Zimmerleute, die zunächst Feuer und Flamme für den Plan gewesen waren, wollten nun auch wirklich mitziehen. Gründe, im Dorfe zu bleiben, fanden sich viele. Manche verwiesen darauf, dass sie die Passage von 45 Talern nie und nimmer würden aufbringen können. Andere hatten Schulden und fürchteten, dass die Gläubiger die Abwesenheit der Männer nützen könnten und den Frauen die Häuser über dem Kopf versteigern würden. In einigen Familien glaubten die Frauen, sie würden ihre Männer nie wieder sehen, und hatten mit Tränen und Bitten erreicht, dass diese schließlich
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