Der Lange Weg Des Lukas B.
gelockt.«
»Warum? Kein Mensch läuft ohne Grund davon.«
»Mein Vater war ein wenig streng mit ihm«, versuchte Mathilde zu erklären.
»Ein wenig streng?« Der Lehrer lachte. »Wenn ich es richtig sehe, dann haben Vater und Sohn ganz und gar nicht zueinander gepasst. Der alte Mann hat ihn nicht loslassen können. Karls größter Fehler war es, dass er nicht schon fortgelaufen ist, als er fünfzehn war. Ich hätte dem Alten das Werkzeug vor die Füße geworfen und auf die Zimmerei gepfiffen.«
»Rede nicht so von Vater«, fuhr Mathilde ihn an. »Er hat es gut gemeint mit Karl.«
»Gut gemeint«, spottete Piet. »Er brauchte einen Erben für sein Geschäft. Das war’s nach meiner Meinung. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, den Sohn zu fragen, was der selbst will. Es ist mit ihm genauso wie mit dem König von Preußen und seinem Volk. Solange alle nach seiner Pfeife tanzen, ist er ein guter und freundlicher Mann. Aber geht ihm irgendetwas gegen den Strich, dann ist’s aus und vorbei mit der Väterlichkeit. Ab in die Festung. Beuge den Rücken oder ich breche ihn dir.«
Mathilde stand abrupt auf. »So sollst du von meinem Vater nicht reden, Piet.« Sie ging fort.
Einen Augenblick schien es, als ob Piet ihr nacheilen wollte. Aber dann besann er sich und blieb trotzig sitzen.
»Interessant, was Sie da von Ihrem König sagen«, knüpfte der Kapitän das Gespräch wieder an. »Sie wissen, dass ich Däne bin. Ihr König hat uns 1864 den Krieg ins Land getragen und die Dänen auf den Düppeler Schanzen zusammengeschlagen. Ich habe eine gewisse Sympathie für Leute, die den König von Preußen mit einer Revolution wegfegen wollen.«
»Ich bin kein Revolutionär«, widersprach der Lehrer. »Ich habe mich den Leuten immer fern gehalten, die ihr Recht mit Kugeln und Blei erkämpfen wollten. Ein Parlament muss her, ein Parlament, das mehr Rechte hat und mehr Recht schafft.«
Der Kapitän lachte laut. »Siehst du, Hendrik, du hast einen Bundesgenossen an Bord. Und zugleich kannst du an diesem Träumer ablesen, wohin der friedliche Weg führt, den du mir anrätst. Aus dem Lande haben sie ihn verjagt. Der König von Preußen aber und sein feiner Herr Bismarck, die werden immer stärker. Österreich haben sie 1866 bei Königsgrätz besiegt. Bald sind andere Länder an der Reihe. Und alles mit Pulver und Blei und nicht mit schönen Reden.«
»Ideen, Kapitän, kann niemand erschießen«, antwortete Piet. »Ich musste fliehen, ja. Aber ich habe vielen Leuten weitergesagt, was ich denke und was ich von anderen gehört habe vom Recht des Menschen. Die Idee breitet sich aus, dass alle Menschen frei geboren sind und alle gleiche Rechte haben.«
»Na«, spottete der Kapitän, »dann kommen Sie ja gerade zur rechten Zeit in die Staaten. Die Neger sind seit einiger Zeit solche angeblich freien Menschen. Sie werden schon selber sehen, wohin das führt. Gute Nacht.«
Er kehrte auf das Achterdeck zurück.
Der Mond war inzwischen aufgegangen. An Deck saßen nur noch wenige Passagiere. Piet hockte noch eine Weile, in Gedanken versunken, auf den Planken. Dann ging auch er.
»Erzähle mir von Charly«, bat der Junge den Segelmacher. Als dieser stumm blieb, zog er die Flasche mit Rum unter dem Hemd hervor und reichte sie dem Mann hinüber. Der stellte sie vor sich auf den Boden und hielt sie mit den Füßen fest.
Er schaute lange auf den Jungen, dessen Gesicht im Mondlicht blass und schmal erschien.
»Ich nehme an, Luke, du willst herausbekommen, ob Charly dein Vater gewesen ist. Ich weiß es nicht.«
»Wenn ich an das Bild in der Kajüte denke, Hendrik . . . «, sagte der Junge. Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Aber du behauptest, dass Charly keine Karten spielte, dass er wütend wurde, wenn er nur Schnaps roch. Mein Vater spielte gern und spuckte nicht in ein Glas.«
»So ist es«, bestätigte der Segelmacher. »Charly war nicht so. Er trank nicht, er spielte nicht. Ich erzählte dir ja davon. Er hatte eben andere Fehler.«
»Was für Fehler waren das, Hendrik?«
»Was für Fehler! Was für Fehler! Er hasste zum Beispiel seinen Vater und hätte ihn am liebsten umgebracht.«
»Warum?«, fragte der Junge. »Warum hasste er seinen Vater? Hat er nicht für die Familie gesorgt? Hat er seinen Sohn im Stich gelassen?«
»Nein, nein. Der Fall lag bei Charly und seinem Vater wohl etwas anders. Da ist zum Beispiel die schlimme Geschichte von Charlys Geburtstag. Als Charly 18 Jahre alt wurde, da war er gerade mit
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