Der Lange Weg Des Lukas B.
über die Planken und stiegen in die Masten. Pünktlich um vier Uhr zogen sie alle Segel auf.
Der Junge ließ sich vorsichtig aus der Koje gleiten, streifte seine Hose über und schlich zur Luke. Die stand halb geöffnet, weil es in den Nächten drückend und schwül blieb, seit sie die Azoren hinter sich gelassen hatten.
Er benetzte im Mund seinen Zeigefinger und hielt ihn hoch in die Luft. An der Windseite spürte er die Abkühlung. Wie seit Tagen schon blies der Passat aus Nordost.
Eine junge Frau kletterte aus dem Zwischendeck herauf.
Sie trug einen Säugling auf dem Arm. Der wimmerte leise vor sich hin. Keine Milch, dachte der Junge. Nur Zwieback mit Wasser. Für die kleinen Kinder ist die Überfahrt schlimm.
Die Frau redete auf den zweiten Steuermann ein.
Luke ging zu ihnen hinüber.
»Machen Sie sich keine großen Sorgen«, tröstete der Steuermann die Frau. »Es ist wahrscheinlich die Krätze. Kommt bei jeder Überfahrt im Zwischendeck vor.«
»Aber was soll ich tun?«, fragte die Frau. »Mein Kind scheuert sich die Haut blutig.«
»Ich lasse später frisches Meerwasser in einen Bottich füllen«, sagte der zweite Steuermann. »Baden Sie das Kind in der Frühe und am Abend darin. Dann wird der Juckreiz bald nachlassen.«
»Es haben unter Deck viele Kinder diese Krankheit«, sagte die Frau.
»Sagen Sie den Frauen, dass sie die Kranken fleißig baden sollen. Die Kinder werden weinen, weil das Salz in den Wundstellen beißt. Aber das Salzwasser reinigt auch und heilt.«
An diesem Vormittag kamen die Zimmerleute nicht dazu, an Deck ein Pfeifchen zu rauchen. Gemeinsam mit den Matrosen hängten sie schmale, hohe Trichter aus steifem Segeltuch auf und verstärkten sie mit Bambusringen. Sie glichen riesigen Füllhörnern. Diese Windsäcke fingen jeden Luftstrom auf und leiteten ihn in die Kajüten, ins Steerage und ins Zwischendeck. Der Windhauch milderte die Glut der stickigen Luft unter Deck ein wenig. Doch jeder, der eben kriechen konnte, kam an Deck und suchte sich im Schatten der Segel und Luken ein Plätzchen. Über das Achterdeck ließ der Kapitän ein großes Sonnensegel spannen, damit die Kajütengäste bequem im Schatten verweilen konnten. Gegen Mittag wurde es so heiß, dass das Pech in den Fugen zwischen den Planken weich zu werden begann.
Die Zimmerleute hatten sich auf dem Deck ausgestreckt oder saßen, mit dem Rücken gegen Mast und Luke gelehnt, und dösten vor sich hin. Der Lehrer versuchte dem Jungen zu erklären, dass sie in diesen Stunden den Wendekreis des Krebses überquerten. Er hatte mit Holzkohle in groben Umrissen den Atlantik auf eine Planke gezeichnet, die Küsten Afrikas und Europas im Osten und Amerikas Gestade im Westen.
»Genau am 21. Juni«, sagte er, »hat die Erde sich so gedreht, dass die Sonne bei uns im Norden den höchsten Stand erreicht. Sie steht dann senkrecht über dem Wendekreis des Krebses.«
»Sommer und lange Tage bei uns zu Hause«, sagte der Junge.
Franek Priskoweit mischte sich träge ein: »Ich meine, unser alter Lehrer hat damals gesagt, dass die Erde sich in 24 Stunden einmal dreht?«
»Stimmt auch«, sagte der Lehrer. »Aber außer bei diesen täglichen Drehungen pendelt sie einmal im Jahr hin und her.«
»Kapier ich nicht«, brummte Franek und ließ sich zurücksinken. »Na, so«, rief der Junge eifrig, sprang auf, drehte sich im Kreise und schwankte dabei hin und her.
»Als ob die Erde besoffen wäre«, lachte Franek Priskoweit.
»Gar nicht so schlecht, wie du das vortanzt«, lobte der Lehrer. »Nur neigt sich die Erde ganz, ganz langsam.«
»Klar«, antwortete der Junge. »Sie wendet sich allmählich und die Sonne steht schließlich senkrecht über dem südlichen Wendekreis.«
»Genau.«
»Dann ist es bei uns Winter.«
»Alles klar, Luke.«
»Heute haben wir den 8. September. Wir segeln der Sonne nach. Sie wandert vor uns her bis zum Jahresende. Jetzt werden die Tage in Liebenberg wieder kürzer.«
»So ungefähr«, stimmte der Lehrer zu.
»Wieso nur ungefähr?«, fragte Franek Priskoweit.
Er saß hinter dem Jungen träg im Schatten, hatte nur halb zugehört und öffnete bei der Frage nicht einmal die Augen.
»Nicht die Sonne wandert weiter«, antwortete der Lehrer und wurde ungeduldig. »Die nördliche Erdhälfte wendet sich ab. Die Sonne steht, wo sie steht.«
»Aha.«
»Verstanden?«
»Was gibt es da zu verstehen?«, fragte Franek geringschätzig. »Dass es Sommer gibt und Winter und dass das Licht nach dem 21. Juni in
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