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Der Lange Weg Des Lukas B.

Der Lange Weg Des Lukas B.

Titel: Der Lange Weg Des Lukas B. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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stricknadeldünnes Röhrchen herbei, dessen Ende blau ausgeglüht war. Er zog das Ohrläppchen des Jungen auf den Block und hieb mit einem kleinen Holzscheit einmal fest zu, sodass das Röhrchen durch das Ohrläppchen in den Holzklotz eindrang. Der Junge spürte einen scharfen, kurzen Schmerz. Der alte Mann zog das Röhrchen heraus, führte einen knapp aufgebogenen, kleinen Goldring durch das Ohrloch und drückte den Ring zusammen. Franek ließ den Jungen frei. »Ich beglückwünsche den neuen Zimmermann in unseren Reihen«, rief der alte Mann. Alle ließen ihn hochleben. Es tropfte Blut aus der Stichwunde auf die Schulter des Jungen, aber er bemerkte es nicht. Er war glücklich, dass er den Ring der Zimmerleute tragen durfte.
    Auch der Kapitän gratulierte. Dann stellte er sich auf die Stufen des Achterdecks und hielt eine kleine Ansprache: »Ich bin sehr stolz darauf, dass die ›Neptun von Danzig‹, nachdem sie schon über dreißig Jahre die Weltmeere pflügt, solch eine Verjüngungskur durchgemacht hat. Alle beschädigten und angenagten Holzteile sind ausgewechselt und erneuert worden. Vor allem aber freue ich mich darüber, dass mein Schiff eine Galionsfigur bekommen hat. Jetzt kann jeder es schon aus der Ferne sehen, dass dieses Schiff die ›Neptun von Danzig‹ heißt. So betrachtet, kann ein blinder Passagier«, er suchte mit seinem Blick Mathilde, »kann ein blinder Passagier für ein Schiff gelegentlich sogar ein Glücksfall sein. Ich lade die Mannschaft und die Zimmerleute für später zu einem guten Schluck Rum ein. Wir wollen den letzten Abend an Bord gemeinsam feiern.«
    Der alte Mann, Mathilde und der Junge wurden überdies aufgefordert gemeinsam mit den Offizieren und Kajütenpassagieren in der Messe zu essen.
    Mathilde machte ein bedrücktes Gesicht, als der Junge sie allein erwischte.
    »Er hat es bemerkt. Genau wie ich es befürchtet habe, er hat es bemerkt«, sagte sie. »Er hat mich kalt und traurig angesehen. ›Nicht, dass du etwas über deinen Bruder Charly wissen willst, ist schlimm‹, hat er gesagt, ›aber dass du es mir nicht vorher anvertraut hast, das ist schlimm.‹ Dann hat er das Logbuch aufgeschlagen und voll Spott gesagt: ›Und für ein paar Sätze so viele Heimlichkeiten.‹ Ich wollte nicht mehr lesen, was darin stand, so schämte ich mich. Da hat er’s mir vorgelesen.
    ›Haben einen gewissen Charly angeheuert. Ist ein begabter Mann und wird dem Schiff endlich eine Galionsfigur schnitzen. Ist aber auch ein Zugvogel, den ich wohl nicht lange halten kann.‹ Dann blätterte er weiter und fuhr fort: ›Heute ist Charly B. nicht an Bord zurückgekehrt. Die Galionsfigur ist nicht einmal zu einem Viertel fertig. Ich hatte mit diesem Burschen nicht viel Glück.‹«
    »Wird er mit dir mehr Glück haben?«, fragte der Junge.
    »Was weiß ich?«, sagte sie mehr zu sich selber. »Er ist ein guter Mann und sehr lieb. Aber er hat einen anderen Geruch, kommt aus einem Haus, in dem sie Kindermädchen hatten, einen Kutscher, eine Mamsell. Was soll ich ihm sagen?«
    »Gegensätze ziehen sich an, hat Großmutter gesagt. Und einen Kapitän zum Onkel, das wäre gar nicht so schlecht.«
    Es war, als ob sich Mathilde erst jetzt wieder an den Jungen erinnerte. »Grünschnabel«, schimpfte sie.
    »Rotkohl.« Das war die Münze, mit der er ihr’s immer zurückzahlen konnte.
    Die Einladung zum Abendessen machte es möglich, dass der Junge noch am letzten Tag der Reise die Offiziersmesse sehen konnte. Der Raum war mit Mahagonimöbeln ausgestattet. In silbernen Leuchtern brannten Wachskerzen.
    Der Kapitän bat die Gäste an seinen Tisch. Bevor die Speisen aufgetragen wurden, klopfte er mit einer Gabel auf den Tellerrand und erhob sich. An die sechzig Tage seien sie gemeinsam über den Atlantik gesegelt, sagte er. Nicht immer sei die Reise ohne Schwierigkeiten verlaufen. Aber schließlich komme das Schiff schöner in New Orleans an, als es in Danzig ausgesegelt sei. Er hebe sein Glas und trinke auf die Stunde, in der er die Zimmerleute zur Buße für ihren Widerstand hätte verurteilen können. Dem alten Manne, den Zimmerleuten und den Passagieren wünsche er, dass die Neue Welt ihnen ihre Hoffnungen erfülle. Er trank allen Gästen zu. Als er sah, dass der Junge nur sein Glas hob, aber nicht daraus trank, da fragte er: »Sparst du immer noch den Alkohol für Geschichten auf?«
    Der Junge nickte. Der Kapitän winkte den Steward heran und flüsterte ihm etwas zu. Der nickte, ließ sich vom Kapitän

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