Der Lange Weg Des Lukas B.
einen Schlüssel geben und kam kurz darauf mit einer Flasche in der Hand zurück.
»Für dich«, sagte der Kapitän. »Aber lass dir zum Schluss von Hendrik noch eine sehr gute Geschichte erzählen, denn dies ist ein sehr alter Whisky. Ich habe ihn schon einige Jahre lang an Bord gelagert. Eigentlich ist er viel zu schade für den alten Gauner in der Segelkammer. Aber ich hänge an Hendrik. Er fuhr schon auf dem Schiff meines Vaters und war ein gefürchtetes Raubein. Keine Schlägerei an Bord, in die Hendrik nicht verwickelt gewesen ist. Aber es gab auch keinen Segelmacher weit und breit, der so gute Arbeit leistete wie dieser Kerl. Und dann ist nach einer handfesten Auseinandersetzung im Hafen von Rio ein Maat nicht mehr aufgestanden. Er hatte sich mit Hendrik eingelassen, war handgreiflich geworden und hatte sein Messer gezogen. Hendrik hat ihn mit einem Kantholz niedergeschlagen. Es war Notwehr und Hendrik konnte unbehelligt an Bord zurückgehen. Aber es ist ihm unter die Haut gegangen, dass er einen jungen Menschen mit einem Schlag vom Leben zum Tod gebracht hat. Er hat zu grübeln angefangen, hat meinen Vater gebeten allein in der Segelkammer leben zu dürfen, hat alles gelesen, was ihm unter die Augen kam, und sich Bücher von meinem Vater und von den Passagieren ausgeliehen. Stundenlang hat er sich mit meinem Vater unterhalten. Immer mehr ist er zu einem Sonderling geworden. Er hat seit diesem Streit vor über dreißig Jahren nie mehr versucht seine Fäuste zu gebrauchen, hat sich nicht verteidigt, selbst wenn ihm die Matrosen übel mitspielten. Oft haben sie ihn den ›sanften‹ Hendrik genannt. Er ist überzeugt davon, dass jede Gewalt vom Teufel ist.«
»Ihr Fleisch wird kalt«, mahnte der erste Steuermann den Kapitän. Der aß, war jedoch mit seinen Gedanken weit weg.
»Aber das Saufen, das kann er nicht lassen«, sagte der alte Mann.
»Er hat früher an Bord niemals getrunken. In den Häfen allerdings hat er den größten Teil seiner Heuer in Branntwein umgesetzt. In der Segelkammer trinkt er erst, seit er diesen furchtbaren Husten hat.«
Sie schwiegen eine Weile. Dann versuchte der Kapitän ein Gespräch in Gang zu bringen, erzählte von New Orleans, von anderen Hafenstädten, aber seine Gäste blieben einsilbig. Der Junge fühlte sich von den Passagieren beobachtet. Seine Mühe, Messer und Gabel so zu gebrauchen, wie er es bei den Offizieren sah, verdarb ihm den Geschmack an den Speisen.
»Gehen wir an Deck«, schlug der Kapitän schließlich vor. Dort war der Rum schon ausgeteilt worden. Ein Teil der Passagiere hatte sich bereits in den Kojen verkrochen. Die anderen redeten von dem neuen Land, das sie am nächsten Tag erreichen würden, und die Ungewissheit, wie es die Einwanderer aufnehmen würde, war selbst bei den jungen Männern zu spüren, die sich vorher großspurig gegeben hatten und Glück und Reichtum schon in der Tasche zu haben schienen. Mathilde setzte sich dicht neben den Kapitän. Sie hatten nur Augen füreinander. Von einer Verstimmung war nichts zu bemerken. Der Lehrer hockte abseits und zog sich, mit seinem Geschick hadernd, bald in das Steerage zurück. Der Junge schlüpfte zu dem Segelmacher in die Kammer. Der saß im Schein einer Petroleumlampe, hatte die Nickelbrille auf der Nase und war in ein Buch versunken. Schließlich schaute er über den Brillenrand hinweg und sagte: »Wann, Luke, glaubst du, kommt Jesus wieder zurück?«
Der Junge zuckte die Achseln und fragte: »Glaubst du, dass er wirklich kommen wird?«
»Das glaube ich sicher. Er hat es versprochen. Mit großer Macht und Herrlichkeit, heißt es. Weißt du, ich glaube, er wird mit der Morgenröte kommen. Manchmal, wenn mir danach ist, stehe ich in der Frühe auf, ziehe meinen guten Anzug an, rasiere und kämme mich sorgfältig und säubere mir die Nägel. Dann stelle ich mich an den Bug des Schiffes ganz nach vorn. Ich schaue nach Osten, sehe das erste Licht, das die Finsternis der Nacht in nichts auflöst; der Bote der Sonne, ein feuerfarbener Schein, flammt auf, färbt den Horizont, die Sonnenscheibe schiebt sich groß und glühend aus dem Meer. Ich schaue so lange in die Sonne, bis es mir in den Augen flimmert. Ich hoffe, ich werde es nicht verschlafen, wenn er eines Tages mit dem Morgenlicht auf die Erde zurückkommt.«
Der Segelmacher sprach lebhaft und der Junge nahm an Jonas habe ihm bereits aus dem Fässchen des Kapitäns einen gehörigen Schluck zukommen lassen. Er zog die Whiskyflasche unter dem Hemd
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