Der Lange Weg Des Lukas B.
war schon alles still auf dem Schiff, als sie die Stiegen ins Steerage herunterschlich. Auf der Kiste brannte noch trüb die Lampe, die stets der Letzte ausblies, der in die Koje schlüpfte. Fast alle schliefen bereits. Der Junge schloss die Augen, als Mathilde an die Koje trat. Papier raschelte. Er blinzelte und sah, wie Mathilde die Wunderblume ins Licht hielt, zusammenklappte und wieder entfaltete. Sie schaute unsicher dorthin, wo Piet hinter Gerhard Warich seinen Schlafplatz hatte. Sie blies das Licht aus und schlüpfte vorsichtig unter die Decke. Durch die Luke fiel silbrig der Mondschein.
Der Junge sah in dem Schimmer der Nachtlichter, dass Mathilde auf dem Rücken lag, die entfaltete Blüte mit beiden Händen festhielt, und er glaubte ein Lächeln und ein Glitzern auf ihrem Gesicht zu erkennen. Aber er rührte sich nicht. Die zarten Zeichen der Liebe, dachte er. Ich werde auch ein Geschenk haben, wenn ich nach Liebenberg zurückkomme. Ein herrliches Geschenk. Ein zartes Zeichen . . ., dachte er und hatte Mühe das Lachen zu unterdrücken.
Ungewohnte Geräusche an Deck weckten den Jungen aus dem leichten Schlaf, in den er in dieser letzten Nacht auf dem Meer endlich gesunken war. Das konnte nicht die Mannschaft sein, die um vier Uhr die Segel hisste. Es war noch dunkel. Der Junge ließ sich aus der Koje gleiten und schlich sich aus dem Steerage. Er hörte vorn auf dem Schiff die Stimmen einiger Seeleute und ging zu ihnen. Sie standen am Bug und spähten in die Dunkelheit. Der Bootsmaat malte mit einer Laterne Feuerkreise in die Finsternis. Der Junge sah das Dampfboot erst, als es in der Nähe einen lang gezogenen Heulton erklingen ließ. Schon schob sich das Schiff längsseits an die »Neptun« heran. Große Schaufelräder drehten sich langsam und trieben das Schiff nur gemächlich vorwärts. Einige Passagiere, von der Sirene geweckt, tappten schlaftrunken an Deck und fragten, was los sei.
Die Matrosen warfen Trossen von Bord zu Bord. Halblaute Rufe schallten hinüber und herüber. Der Schlepper presste aus einem dünnen Rohr Dampfwölkchen heraus. Nach einem scharfen Zischen tutete es zweimal kurz. Dick quoll schwarzer Rauch aus dem Schornstein. Klingelzeichen schepperten. Die Räder begannen sich schneller und mit größerer Kraft zu drehen und die Schaufeln quirlten helle Schaumschienen in das Wasser. Der Schlepper glitt in der Dunkelheit davon. Straff spannten sich die Trossen. Das dumpfe Stampfen der Maschine entfernte sich nicht weiter. Die »Neptun« nahm Fahrt auf und wurde in Richtung auf die südliche Passage zugeschleppt, die ein breiter Strom im vielarmigen Delta des Mississippi ist.
Die Passagiere begannen zu frösteln und kehrten in ihre Kojen zurück.
Der Junge hörte das unterdrückte Husten des Segelmachers, der in Höhe des Focksegels an der Reling stand. Er ging zu ihm.
»Schon auf den Beinen, Hendrik?«
»Ich will die Schöpfungstage nicht verschlafen«, antwortete der Segelmacher.
»Schöpfungstage?«, fragte der Junge verwundert.
»Wart es ab und sperr die Sinne auf!«, beschied ihn der Segelmacher, kurz angebunden.
»Vor dem ersten Licht ist die Nacht besonders schwarz«, sagte der Junge nach einer Weile in die Stille hinein.
»Finsternis lag über dem Abgrund und Gottes Geist brütete über dem Chaos«, sprach der Segelmacher zu sich selbst.
Als die erste Ahnung des Morgengrauens die tiefe Dunkelheit aufzubrechen begann, redete er weiter: »Es werde Licht! Und Gott schied das Licht von der Finsternis. Abend und Morgen. Erster Tag.« Wenig später fuhr er fort: »Es fahre ein Schnitt zwischen Wasser und Wasser! Und Gott nannte, was über dem Schnitt war, Himmel. Abend und Morgen. Zweiter Tag.«
So ähnlich hatte der Junge diese Worte von der Mutter gehört, vom Pfarrer, vom Lehrer. Aber sein Herz war taub dabei geblieben. Er starrte betroffen in das sich allmählich lösende Dunkel. Der Schlepper war, noch von dünnen Nebelbänken halb verhangen, in seinen ersten grauen Umrissen zu erkennen. Steuerbords hoben sich sanft und breit wie Walrücken flache Schatten aus dem Meer.
»Es sammle sich das Wasser! Es erscheine das trockene Land! Und Gott nannte das Trockene Erde und das Wasser nannte er Meer.« Ein nur eben wahrnehmbarer, süßlich fauliger Geruch stieg dem Jungen in die Nase. Inzwischen waren mehr Passagiere an Deck gekommen. Der Lehrer und Mathilde gesellten sich zu dem Segelmacher und dem Jungen.
Es lag eine stumme Ergriffenheit über den Menschen. Zum ersten Mal
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