Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
diese Dinge zählen jetzt nicht mehr.
Der Koffer auf dem Fußboden quillt über. Nach einigen Versuchen habe ich ihn mit halb geöffnetem Scharnier dort liegen lassen. Meine Mutter sitzt auf dem Bett und betrachtet ihn mit abschätzigem Blick. Ich bin zu sehr mit dem Durchforsten meines alten Bücherregals beschäftigt, um darauf zu achten.
»Wann geht dein Flug?«
»Um acht.«
Kritisch mustere ich das Regal mit den Italienisch-, Literaturwissenschafts- und Geschichtsbüchern. Die transparenten Plastikhüllen meines Vaters haben sie vor dem Verstauben geschützt.
»Komm bloß nicht zu spät zum Flughafen.«
Unmöglich: Anna hat es versprochen. Wir gönnen uns die ganze Nacht, um die Zeit aufzuholen, die wir in diesen Weihnachtsferien unseren Angehörigen geopfert haben, und morgen früh um sieben Uhr setzt sie mich mit schweizerischer Pünktlichkeit am Flughafen ab.
»Hat Gianni dich angerufen?«
Tja.
»Nicht einmal, um dir ein frohes neues Jahr zu wünschen?«
Ein plötzlicher Anfall von Heimweh nach Turin erfasst mich in der Magengegend, lässt mich nicht mehr los. Turin fehlt mir, die Möglichkeit, ein anonymes Leben zu führen.
»Er wird zu tun gehabt haben.«
Ich nehme ein Buch zur Hand, blättere darin. Ich habe zu tun, siehst du das nicht?
»Vielleicht hat er eine neue Freundin«, fährt sie fort.
»Vielleicht.«
Ich höre, wie sie aufsteht und das Zimmer verlässt. Der Schmerz, den die eine der anderen zufügt, ist unerträglich, weil wir jedes Mal beide darunter leiden: Wir können nicht grausam sein, ohne uns gleichzeitig verletzt zu fühlen.
Ich muss mich zwingen, mit der Entzifferung der Buchtitel fortzufahren, gehe ein Regalbrett nach dem anderen durch. Das Buch, das ich suche, ist nicht da.
»Was machst du denn da auf dem Boden?«
Ich tue ihr einen Gefallen und stehe auf.
»Hier«, sagt meine Mutter und streckt mir Geld hin.
»Mama, das ist nicht nötig.«
»Doch«, sagt sie und umarmt mich.
Die Stimme aus der Sprechanlage ist wie eine Ohrfeige.
»Geh schon, lass sie nicht warten.«
Ich renne zu meinem Bruder, um mich zu verabschieden, und als ich zurückkehre, ist der Koffer geschlossen. Papa trägt ihn mir runter, hievt ihn in Annas Kofferraum.
»Wenn du etwas brauchst …«, sagt er, ohne den Satz zu beenden. Mama schaut vom Balkon herab. Teile desPutzes sind abgeblättert und haben dunkle Flecken und Risse hinterlassen, tief wie Schnitte.
Das Auto holpert über den Asphalt; wir tasten uns im Feierabendverkehr voran.
Ich lasse das Fenster herunter, um durch die frische Luft zur Ruhe zu kommen.
»Was ist los?«, fragt Anna.
Ich massiere mir den Brustkorb, gebe ihr eine Richtung an.
»Können wir bitte hier hochfahren?«
Ich brauche es nicht zu wiederholen. Anna reißt gefährlich abrupt das Lenkrad herum und fährt in die Innenstadt hinein. Als wir da sind, hält sie an, lässt aber den Motor laufen.
»Ich fahre nach Hause«, sagt sie. »Ruf mich an, wann immer du willst.«
Ich steige aus und gehe zur eisernen Haustür. Sie ist offen.
Stufe für Stufe steige ich die Treppe hoch. Auf der dritten bleibe ich stehen. Ein starkes, immer wieder unterbrochenes Zischen dringt von ganz oben an mein Ohr, kriecht mir um die Fesseln, hält mich auf. Die Hand auf dem Geländer zittert.
Anna geht beim ersten Klingeln ran.
»Ich bin kurz davor, Mist zu bauen.«
»Dann tu es«, sagt sie und legt auf.
Ohne weiter nachzudenken, lege ich die restlichen Stufen bis zur Wohnungstür zurück. Ich klopfe an, einmal, zweimal. Warte.
Ich stecke einen Finger ins Schloss, als ob er der Schlüssel wäre. Kurz darauf weicht das dunkle Holz zurück, und auf der Schwelle steht Gianni mit zerzausten Haaren. Er legt sich eine Hand auf die Augen und reibt sie erbarmungslos.
»Emma«, sagt er.
Du aber zählst, Emma. Durch deine Gegenwart oder deine Abwesenheit verändert sich alles, und das ist nicht fair. Es ist nicht fair, welche Macht du über mich hast.
In den letzten drei Jahren habe ich Freud und Leid mit dir geteilt. Natürlich hatte das auch was mit Liebe zu tun, mit dem Bedürfnis nach Nähe, aber diese Dinge kann man mehr oder weniger auch mit anderen Personen erleben.
Während dieser fürchterlichen Tage habe ich begriffen, dass du mir mehr bedeutest als das, was ich für dich empfinde. Es ist die Person, die du bist, von der ich nicht loskomme.
Klar, ich kann mich neu verlieben, heiraten, glücklich sein. Ich fürchte bloß, dass das nicht echt und aufrichtig sein wird,
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