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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giusi Marchetta
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Händen an die Schläfen, zog sich die Augen auseinander, bis er ganz entstellt aussah.
    »Wer hat noch nie jemanden mit Down-Syndrom gesehen? Sie können zu Fettleibigkeit neigen, kleinwüchsig sein, aber das ist ganz unterschiedlich. Das Syndrom erkennt ihr hier, in den Augen.«
    Dutzende Füllfederhalter bewegten sich im Einklang, fassten zusammen und notierten D.-Synd. in die Hefte.
    »Geistige Zurückgebliebenheit, hyperaktive Störung: Einige müssen sich anstrengen, Schritt zu halten, andere können sich nicht konzentrieren, nehmen Reißaus.«
    Rita: hyperaktives D.-Syndrom.
    »Aber so weit, so gut.« Er setzte sich hin, machte einen Katzenbuckel und schaukelte vor und zurück. »Da gibt es den Autismus. Und das hier ist nur eine Variante.«
    Er nannte das Asperger-Syndrom, eine nicht weiter spezifierte Störung.
    Alle notierten: Aut. Asp., unsp.
    Er nannte den infantilen Autismus.
    Wir notierten: Aut. infant. Ich schielte zu Annas Heft hinüber: Sie hatte Tommaso hingeschrieben.
    Inzwischen hatte Biagini aufgehört zu schaukeln.
    »Es gibt die Gehirnwassersucht. Die Gehirnlähmungen.«
    Hyd., Parc.
    »Schreibt sie euch alle auf: Hemiplegie des Kindesalters, Diplegie …« Er unterbrach sich: Correnti hatte die Hand gehoben.
    »Auf meiner Uhr ist es zehn nach sieben. Ich glaube, ich habe jetzt das Recht zu gehen.«
    »Ich glaube, ich habe jetzt das Recht, Sie rauszuschmeißen.«
    Correnti zog seine Jacke an und verließ den Raum. Einige in den letzten Reihen standen auf und schlossen sich ihm an.
    Biagini griff nicht ein.
    »Herr Professor.«
    Einer aus der Literatur-Gruppe erhob sich, rückte sich die Brille auf der Nase zurecht. Inmitten des Stühlerückens war seine Stimme kaum zu hören.
    »Während des Referendariats betreute ich einen kleinen Jungen mit einer spastischen Tetraplegie.«
    »Was ist denn das?«, fragte die Kommilitonin nebenan.
    Biagini blieb sitzen. Er wartete, bis alle, die gehen wollten, den Seminarraum verlassen hatten. Einige von ihnen blieben jedoch an der Tür stehen.
    »Hebt die Hände hoch und lasst sie zittern. Oder bleibt eine Stunde lang regungslos sitzen. Setzt euch auf den Stuhl, so: Beine ausgestreckt, Arme verdreht. Wenn ihr den Ellenbogen beugt, beugt sich auch das Knie. Ihr habt keine Wirbelsäule, nur einen kerzengeraden Stock im Rücken. Und wenn er sich bewegt, bewegt sich alles.«
    Er begann, sich auf dem Stuhl zu verdrehen. Wir ließen die Stifte fallen: Man konnte das unmöglich beschreiben.
    »Ihr habt nichts unter Kontrolle. Ab und zu schlagt ihr euch ins Gesicht.«
    Das tat er nun, er schlug sich ins Gesicht. Zitterte dabei weiter.
    »Und dann sprecht ihr so.«
    Er imitierte die Stimme des Hirngeschädigten, der aus den Witzen.
    »Weil die Leute es nicht wissen, aber ihr macht es, indem ihr einatmet. In dem, was ihr sagt, ist kein Atemzug, und der Mund macht, was er will.«
    Hinterher sollten wir uns alle darin versuchen, abwechselnd fast zu ersticken.
    Er beugte den Rücken, streckte die Arme nach vorn, faltete die Hände, verzog den Mund, verdrehte die Augen nach oben.
    »Sabbert, sabbert, sabbert.«
    Atemlos schauten wir ihm zu.
    Eine zittrige Stimme. Eine Frau im Hintergrund.
    »Wie kommt es dazu?«
    Biagini richtete den Rücken gerade. Augenblicklich war er geheilt.
    »Schlagt hin und wieder eure Bücher auf: Es gibt genetische Anomalien, Infektionen, die sich auf den Fötus übertragen.«
    Er streckte den Kopf vor, um die Frau auszumachen, die da gesprochen hatte. Sie trat zwischen den anderen, die an der Tür standen, hervor. Sie war schwanger.
    Biagini starrte sie an.
    »Und schließlich gibt es im Kreißsaal bescheuerte Ärzte«, sagte er. »Jede Menge.«
 
    Ich versuche, dem Jungen mit dem Down-Syndrom das Buch zu geben. Er gibt es mir gleich wieder zurück. Die Kollegin schüttelt den Kopf: Sid kann nicht sprechen.
    Idra übersehe ich geflissentlich, vertraue es dann Rita an. Sie hat dicke Brillengläser und zieht andauernd einen Schmollmund. Stotternd beginnt sie zu lesen. Sie überspringt die Zeilen, gerät bei den Satzzeichen durcheinander, weicht ihnen deshalb aus und verwandelt somit alles in ein einziges Geleier.
    »Ok, danke, jetzt bist du dran.«
    Ich reiche Zanna Bianca an Dip weiter, der auf dem Stuhl hin und her rutscht. Es ist kein Vorlesen, sondern ein Wettlauf, bei dem die Wörter die Hürden sind: Wenn er an einem Punkt angelangt ist, holt er Luft, stürzt sich jedoch sofort in den nächsten Abschnitt und in den übernächsten, lässt

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