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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giusi Marchetta
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mit dem Finger zu, zieht ihr Profil nach, als zeichne er sie gerade mit dem Fingernagel.
    »Es ist die Ilias . Wir werden uns in diesem Schuljahr mit der Ilias beschäftigen.«
    Er hört mir nicht zu, blättert hastig die Seiten um, bis er zum Labyrinth von Knossos kommt: Eine grausame Kreatur, halb Tier, halb Mensch, schüttelt den durch die Nase getriebenen Stierring, erhebt das monströse Haupt auf den mächtigen Schultern, während Theseus, der bei diesem Anblick zu den Waffen greift, etwas zu fehlen scheint.
    »Das ist der Minotaurus: Theseus ging nach Kreta, um ihn zu töten.«
    Andrea berührt das geifernde Maul des Ungeheuers.
    »Und der Leguan?«, fragt er.
    »Der Leguan hat damit nichts zu tun. Das ist eine griechische Geschichte.«
    Er klappt das Buch zu, gibt es mir zurück.
    »Jetzt zeichnen wir das Dreieck von der Tafel ab«, sagt Loredana.
    Riccardi schaukelt. Ich bleibe, wo ich bin, neben ihm. Von drei verschiedenen Wänden des Zimmers kommt ein vertrautes Zischen, umzingelt mich. Ich öffne den Mund, um Loredanas Anweisung zu wiederholen.
    Warte .
    Biaginis Stimme hat etwas unnatürlich Gebieterisches, sie lähmt mich.
    Er hat dir zugehört. Warte.
    Andrea schaukelt immer noch, doch dann hält er plötzlich inne und nimmt ein Blatt aus seiner Mappe. In der Klasse regt sich nichts. Die Schüler haben ihre Bleistifte auf die Bänke gelegt und sich nach hinten gedreht, als hätten sich die Koordinaten des Klassenzimmers verkehrt, und als wären Riccardi und ich der Kalender, das Pult, der Unterricht.
    »Los, beeilt euch, an die Arbeit«, sage ich.
    Die Schlangen haben sich in die Ecken des Zimmers verkrochen und dabei die weißen Köpfe unter ihren Windungen vergraben: Sie versuchten, mich zu verschlingen, es ist ihnen nicht gelungen.

11
    Da gibt es einen Mann und eine Frau, die dachten, dass ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen genau das Richtige wären. Damit die Natur und ihre eigenen Wünsche auf ihre Kosten kämen.
    Sie bekamen aber zwei Jungen und beschlossen, sich damit zufriedenzugeben, obwohl sich der Mutter angesichts der Ähnlichkeit der beiden ein sonderbares Déjà-vu-Gefühl aufdrängt, wann immer sie den Kleineren an sich drückt. Sie sagt sich jedoch, dass das nur ein Gefühl sei und mit den Jahren vergehen werde, wenn sich die Stimmen, Charaktere und Vorlieben der beiden herausbilden würden.
    Nach und nach macht sie sich in einem roten Tagebuch Notizen über die Fortschritte des jüngeren Söhnchens, wie sie es bei seinem Bruder in einem ebensolchen Heft mit blauem Einband getan hat.
    Mit eineinhalb Jahren konnte der Ältere »Mama«, »Papa«, »Happa«, »Pipi«, »Aa« sagen. Er stellte sich in seinem Bettchen auf und probierte einige schwankende Schritte. Auch ließ er sich von Papas Fingern die Nase drehen und schüttelte sich dabei jedes Mal vor Lachen. Er steckte sich Bauklötzchen in den Mund, man musste aufpassen.
    Auch den Kleinen beobachtet die Mama und macht sich Notizen. Wenn die beiden erwachsen sein werden, wird sie jedem sein Exemplar schenken: Damit würden sie alle Erinnerungen vom ersten Tag an vollständig beisammen haben.
    Jeden Abend schreibt sie etwas auf: Kleinigkeiten, Vermerke, die mit dem Abstillen, den Zähnchen, dem Wachstum des Zweitgeborenen zu tun haben.
    Dann wochenlang nichts. Sie bewahrt die Tagebücher in ihrem Nachttisch auf, und jedes Mal, wenn sie das blaue herausnimmt, ohne das rote anzurühren, hat sie ein schlechtes Gewissen wie in ihrer Schulzeit, wenn sie die Hausaufgaben für den nächsten Tag nicht gemacht hatte.
    Es muss also am Alter liegen, denn der ältere Sohn fragt ihr Löcher in den Bauch. Überall steckt er die Finger hinein, kaut die Speisen ordentlich. Daher ist es normal, dass die Launen des Kleinen die Nachmittage beherrschen.
    »Es ist halt sein Charakter«, sagt der Papa. »Mir mussten sie als Kind drohen, damit ich brav war.«
    Aber Drohungen nützen nichts, und Schläge auf den Hintern ebenso wenig. Der Kleine schreit, klettert auf Möbel, hört nicht auf seine Eltern.
    Sie beschließen, einen Arzt zu konsultieren, gehen mit dem Kind in die Klinik und lassen es untersuchen. Nicht nur an den Ohren, auch an den Beinen, am Kopf, man weiß ja nie. Der Kleine hat im Auto einen Turm aus Legosteinen gebaut, den bringt er mit und nimmt jetzt zwei Steinchen von der Spitze, behält sie in der Hand. Er kauert sich auf dem Arm des Papas zusammen, steckt die andere Hand in den Mund, schaukelt hin und her.
    Nach einer Weile kommt

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