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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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völlig unbekannte Farbstufe von Rot
annahm.
    Der Professor holte Benno beim verschnupft aussehenden Pförtner ab.
Wie dieser ausführlich erklärte, hatte der Foxterrier sich keineswegs zahm
verhalten, sondern jeden, wirklich jeden angebellt, der das College betrat.
Darunter den Bürgermeister der Stadt, die Herzogin von Kent, und, am
allerschlimmsten, den extrem wählerischen Händler mit dem besten Porridge
Englands – dessen Lieferungen das College überhaupt am Laufen hielten.
    Â»Als Hund«, erklärte Bietigheim dem Pförtner, »ist Benno eine
Katastrophe. Aber als Mensch unersetzlich.«
    Dann radelte er mit seinem treuen Gefährten zurück zur »God Save The
Queen«, die immer noch fest vertäut am Ufer des ruhig dahinfließenden Cam lag.
Er gab Benno in Pits Obhut und hob das Hollandrad an Deck. Der Professor musste
nachdenken, denn beim Pub-Quiz durfte nichts schiefgehen. Und zum Nachdenken
eignete sich nichts besser als ein Spaziergang.
    Viele Stunden war er zu Fuß unterwegs, bis die Nacht und mit ihr ein
so durchschnittlicher, langweiliger, stinknormaler Regen über Cambridge fiel,
dass die meisten Bewohner der Stadt ihn nicht einmal wahrnahmen. Der Professor
spazierte nicht wahllos, er ging die Orte der Morde nochmals mit dem Wissen ab,
wie sie sich abgespielt haben mussten. Er begann mit dem Mord am Earl, machte
weiter mit dem an Jonathan Cleesewood, ging zu Great St Maryʼs, wo Michael
Broadbent sein Ende gefunden hatte, und nahm sogar den weiten Weg zum Haus von
Kevin Shields auf sich.
    Vier Tote. Und alle hatten sie mit Tee zu tun, diesem doch
eigentlich so friedlichen Getränk. Und das in einer Stadt, die wie aus der Zeit
gefallen wirkte und in der es um die Herrschaft des Geistes ging, nicht um die
des Schwertes.
    Auf dem Weg dachte er sich sämtliche Fragen für das morgige Pub-Quiz
aus. Sie mussten passen. So perfekt wie seine handgenähten Schuhe. Alle
Beteiligten wären in einem Raum versammelt, alle, die Schuld an diesen Morden
trugen und noch lebten. Er würde die richtigen Worte finden, messerscharf
geschliffene. Worte hatten Macht. Sie trafen Menschen ins Herz, in die Seele
und auch in ihr Schuldbewusstsein. Worte waren nicht wie Magie. Sie waren Magie. Im richtigen Moment, im
richtigen Tonfall, zur richtigen Person gesprochen, konnten sie das Leben eines
Menschen komplett verändern.
    Der Professor beschloss, zum Abschluss noch einmal den Blick aufs
große Ganze zu werfen. Auf Cambridge. Von oben. Der Glockenturm von Great St
Maryʼs war längst geschlossen, schließlich war es schon nach zwölf. Doch der
Castle Hill schloss niemals. Die Zeit, als hier ein Castle stand, war lange
vorbei, heute war es nur mehr ein Hügel, doch hier hatte die früheste Siedlung
des heutigen Cambridge gelegen. Der Aufstieg war steil, der Professor meisterte
aber alle Stufen.
    Zwei Liebespärchen genossen ebenfalls die Aussicht, doch nachdem
dieser merkwürdige Herr stocksteif neben ihnen Position bezogen hatte,
beschlossen sie, woanders weiterzuknutschen.
    Bietigheim hatte den Berg für sich.
    Und nach einer halben Stunde alle Fragen zusammen.
    Er konnte nach Hause. Doch dann hörte er Schritte. Feste Schritte.
Entschlossene Schritte. Sie drangen von den Treppenstufen hinauf. Auf einmal
hielten sie inne. Bietigheim blickte den Hügel hinunter.
    Niemand zu sehen.
    Doch der Professor spürte, dass jemand dort stehen geblieben war und
wartete.
    Die Nacht war dunkel wie Schwarztee, die Schatten lang, und ob etwas
Baum oder Mensch war, wer konnte es sagen?
    Nur ein Weg führte vom Castle Hill herunter, und den nahm Bietigheim
jetzt, mit angespanntem Körper und erhobenen Fäusten, falls die Dunkelheit ihn
anspringen sollte.
    Doch nichts geschah.
    Als der Professor am Fuße des Castle Hills durchatmete und sich
wieder sicher fühlte, hörte er sie abermals. Dieselben Schritte, die wie
Peitschenschläge auf den Asphalt knallten.
    Bietigheim ging schneller.
    Auch die Schritte beschleunigten sich.
    Doch immer, wenn er sich umdrehte, war da niemand. Die Stadt war so
düster, dass sie genug blinde Flecken bot, in denen man verschwinden konnte.
Cambridge spielte seinem Verfolger in die Hände.
    Er beschloss, vor einem bereits geschlossenen, aber noch
beleuchteten Pub anzuhalten, bis sein Verfolger ihn erreichte. Doch die
Schritte hörten plötzlich auf. Minutenlang nichts zu hören. War alles eine
Illusion

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