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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Stück hatte
richtig Schwung. Er sann noch über die Worte aus dem Brief des Paulus an die
Philipper nach, als in der kurzen Pause vor der letzten Darbietung plötzlich
schwere Schritte zu hören waren, die ihn auf den Boden der Tatsachen
zurückholten.
    Â»Da ist er!”« Es war kein erfreuter Ausruf, eher das, was die Horde
Dschinghis Khans brüllte, als sie kurz vor der Massakrierung Dschalal ad-Dins
standen. Und leider war mit »er« niemand anders als Professor Adalbert
Bietigheim gemeint. »Schwanenkiller! Schwanenkiller! Schwanenkiller!«
    Einer der rund dreißig Demonstranten hielt einen Zeitungsartikel in
die Höhe, der Fotos von Bietigheim, einem Schwan und dem Midsummer House
enthielt. Die lokale Presse hatte also bereits über sein famoses Mahl
berichtet. Wie nett.
    Die jungen Leute entrollten hastig Banderolen, die sie eigens
gebastelt haben mussten. So viel Eigeninitiative fand Bietigheim
bewundernswert.
    Auch wenn ihm ein anderer Anlass lieber gewesen wäre.
    Â»Ban Bietigheim!«, stand auf dem größten der Plakate. Verbannt
Bietigheim! Zwar war der Professor ohnehin nicht mehr Teil des Colleges, doch
das hielten die Protestanten augenscheinlich für ungenügend. Wenn schon
öffentliche Verbrennung keine Option war, so doch wenigstens Exil auf
Lebenszeit. Wie fortschrittlich.
    Ein anderes Banner ging in seiner Forderung deutlich weiter: »Kill
Bietigheim – Save Swans!«
    Mittlerweile war die Atmosphäre in der College-Kapelle siedend heiß.
Viele tuschelten, andere sprachen nervös in ihre Handys – oder filmten. Der
Master war sichtlich aus der Fassung geraten.
    Aus der Schar der Demonstranten trat ein junger Mann mit
Nickelbrille und Palästinensertuch hervor und baute sich in der Mitte des
Kirchenschiffs auf. Dann faltete er ein Blatt Papier auseinander und begann mit
wütendem Timbre zu rezitieren, zuerst auf Deutsch, dann auf Englisch.
    Der Schwan ist tot. Der Schwan ist tot.
    Was bleibt von ihm? Doch nur der Kot.
    Ein Professor killte das edle Tier,
    Hört seelenruhig Choräle hier.
    Jeder Schwan ist uns lieber
    Als Professoren im Jagdfieber.
    Mörder, so sollte man ihn nennen
    Und ihn selbst in der Pfanne anbrennen!
    Der Dichter schien Szenenapplaus zu erwarten. Dieser blieb jedoch
aus. Das war ja auch wirklich ein mickriges Gedicht, fand Bietigheim. Versmaß
und Wortwahl unter aller Kanone. Deshalb war er froh, dass nun einige
Mitarbeiter des Colleges erschienen und die Truppe hinausdrängten. Noch eine
Strophe hätte er nicht ertragen.
    Nun hafteten die wütenden Blicke nicht länger auf den Ruhestörern,
sondern auf Bietigheim. Der Professor fand deshalb, es sei an der Zeit,
Stellung zu beziehen. Er stand auf und räusperte sich. »Die Queen selbst hat es
erlaubt. Und sich sogar etwas von dem Menü kommen lassen. Sie lobte es danach
in den höchsten Tönen.«
    Gut, das war gelogen, aber nur ein wenig. Eigentlich war es der
Wahrheit nur vorgegriffen. Denn wie konnte man dieses Menü nicht loben?
    Natürlich hätte er sich genauso gut verteidigen können, indem er
verriet, dass er eigentlich Truthahn serviert hatte und der psychopathische
Schwan namens Charles immer noch auf dem Cam Angst und Schrecken verbreitete.
    Doch das wäre schlecht für seinen Ruf gewesen.
    Â»Und nun würde ich mich außerordentlich freuen – ich denke, da
spreche ich im Namen aller Anwesenden –, wenn wir vom wunderbaren Chor dieses
altehrwürdigen Colleges die Hymn 94 hören könnten. Denn schließlich sind wir
alle hier versammelt, um dem Evensong beizuwohnen, und nicht, um von schlechter
Lyrik gequält zu werden.«
    Zustimmendes Gemurmel. Doch der Kopf des Masters hatte die Farbe
einer vollreifen Tomate angenommen, die kurz vor dem Zerplatzen stand.
    Der Chor brachte routiniert das letzte Stück über die Bühne. Dann
leerte sich die Kapelle. W. W. Stuart versuchte, rasch an Bietigheim
vorbeizukommen, doch dieser schnellte aus seiner Bank wie ein 100-Meter-Läufer
aus den Blöcken und drückte ihm die Einladung zum Pub-Quiz in die Hand. »Danach
wird alles gut sein, versprochen. Und das St Johnʼs College wird in altem Glanz
erstrahlen – allerdings nur, wenn Sie bis dahin Töler vor die Tür gesetzt und
mich reinstalliert haben. Den Mann, der die Queen bekocht!«
    Mit einem Zwinkern ließ er den Master ziehen.
    Dessen Kopf nun eine bisher

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