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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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den Fluss. Doch der schmale,
geschmeidige Teemeister fand einen Weg durch die Massen, ohne auch nur einmal »Bitte«
sagen zu müssen. Bietigheim bediente sich einer anderen Technik. In Gedanken
nannte er sie die »Pit-Ramme«. Er brüllte: »Aus dem Weg, Gesindel!« und hob
dabei bedrohlich die Fäuste. Die Technik funktionierte.
    Der Cam war zwischen der Seufzerbrücke und der Silver Street Bridge
kaum zu sehen, so dicht lagen die Stechkähne im Wasser. Bei dem Rennen ging es
nicht darum, sein Boot möglichst schnell zu bewegen, sondern möglichst schnell
von einem Boot zum nächsten zu gelangen.
    Unter den mit Startnummern versehenen Teilnehmern, die in kurzen
Hosen bereitstanden, befanden sich einige breitschultrige olympisch wirkende
Schwimmer, doch die meisten von ihnen waren Leichtgewichte, welche die
Stechkähne laufend und springend überqueren konnten, ohne diese übermäßig zu erschüttern.
Einige trugen spezielle Bootsschuhe, die auf den nassen Holzplanken nicht
ausrutschen würden, andere setzten auf nackte Füße.
    Gerade als Kokushi an der Startlinie ankam, fiel der Schuss, der das
Rennen eröffnete. Ob absichtlich oder nicht, Kokushi rannte mit. Bietigheim
schloss sich an. Und auch Benno von Saber ließ sich nicht lumpen.
    Dabei durften Hunde überhaupt nicht teilnehmen.
    Weswegen zwei der Organisatoren hinterherspurteten, um den illegalen
Vierbeiner einzufangen. Als Benno das bemerkte, machte ihm die Sache noch mehr
Spaß – genau wie dem Publikum.
    Der Mann mit der Knetgumminase blieb kurz stehen. Vielleicht weil zu
viele Fotografen anwesend waren. Dann rannte er am Ufer weiter, doch dort war
das Gedränge so groß, dass sein Tempo stark nachließ. Die Zuschauer drückten
immer weiter zum Ufer, denn so etwas hatte es noch nie gegeben: ein Asiate in
traditioneller Kleidung, ein Mann, der sich als altehrwürdiger Professor im
dunklen Anzug kostümiert hatte, und ein kläffender Hund, die allesamt am
Punting-Rennen teilnahmen! Es erklangen Anfeuerungsrufe, die Buchmacher
erweiterten ihre Teilnehmerliste und nahmen neue Wetten an.
    Die Stechkähne lagen nicht ordentlich in Reih und Glied im Wasser
des Cam, sondern kreuz und quer. Sie bewegten sich ständig in neuen
Konstellationen, wie eine Landmasse, die extrem unentschlossen darüber war, wie
sie endgültig aussehen wollte. Waberndes Holz, auf dem vereinzelt Männer und
Frauen mit langen Stangen standen. Ein wenig wie die schwimmenden Märkte in
Thailand.
    Kokushi beherrschte die Kunst der Balance perfekt. Wie ein
Seiltänzer tippelte er von Boot zu Boot, sprang mühelos, landete weich.
    Bietigheim nicht.
    Er hatte gedacht, als Hanseate wäre das Wasser sein Element. Das
Problem war nur: das Wasser sah dies völlig anders. Und die Stechkähne
ebenfalls. Bietigheims Fortbewegungsmethode konnte am ehesten als Taumeln oder
als kontrolliertes Fallen bezeichnet werden. Doch sein Wille war ebenso stark
wie seine Ellbogen. Mit diesen beförderte er einen Konkurrenten nach dem
anderen ins Wasser.
    Die abgesperrte Mathematical Bridge tauchte vor ihnen auf – und
Kokushi kletterte daran empor! Wo wollte er hin? Es war eine akrobatische
Meisterleistung, gerade für einen klein gewachsenen Japaner. Flink erklomm er
die komplett aus Holz erbaute Brücke, die der Legende nach von Sir Isaac Newton
gänzlich ohne Schrauben und Muttern errichtet worden war – in Wirklichkeit
wurde sie zweiundzwanzig Jahre nach dessen Tod von James Essex mit ebensolchen
gebaut. Aber Cambridge liebte solche Geschichten, selbst wenn bewiesen war,
dass sie nicht stimmten.
    Schließlich hatte Kokushi es geschafft. Er blickte auf den Fluss,
schaute nach rechts, wo sich die Menschen eng an eng drängten, und nach links
auf eine Rückwand des Queenʼs College. Auf einmal tauchten unter ihm zwei Hände
an einem der Brückenbalken auf. Wenig später wuchtete sich Dr. Dr. Adalbert
Bietigheim keuchend über das Geländer. Doch als der Professor auf der Brücke
stand, war seine Beute schon wieder auf eines der Boote im Cam gesprungen.
    Bietigheim musste sehr an sich halten, um nicht vor den Leuten
unziemlich zu fluchen. Stattdessen entfleuchte ein »Hochdruckvakuumierer!«
seinen Lippen.Von unten hörte er Benno bellen, der nun auf den zweiten Platz
vorgerückt war und die Verfolgung fortführte. Vorsichtig ließ sich Bietigheim
wieder hinab, doch nun

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