Der letzte Coyote
seine Nase verarzten zu lassen. Ein interner Ermittler hat seine Aussage aufgenommen, und ich wurde vom Dienst suspendiert. Irving hat sich dann persönlich eingemischt und Zwangsbeurlaubung wegen Streßüberlastung angeordnet. Und jetzt bin ich hier.«
»Was passierte mit dem Fall?«
»Der Freier hat nicht mehr ausgesagt. Er nahm sich einen Anwalt und wartete ab. Edgar ging mit dem, was wir hatten, letzten Freitag zur Staatsanwaltschaft, und sie warfen es in den Papierkorb. Sie sagten, sie würden nicht mit ein paar nebensächlichen Ungereimtheiten und ohne Zeugen vor Gericht gehen. Die Fingerabdrücke der Prostituierten seien schließlich auf dem Messer … Letztendlich zählte sie nicht. Wenigstens nicht genug, um das Risiko einzugehen, den Prozeß zu verlieren.«
Eine Weile lang sagten sie beide nichts. Bosch nahm an, daß sie den Fall mit dem Mord an seiner Mutter verglich.
»Der Mörder«, fuhr er schließlich fort, »läuft frei herum. Der Typ, der ihn laufenließ, sitzt wieder an seinem Schreibtisch – und die Glasscheibe wurde ersetzt. Alles geht wieder seinen Gang. Das ist unser System. Weil ich deswegen ausgerastet bin, bin ich zwangsbeurlaubt und verliere eventuell meinen Job.«
Sie räusperte sich, bevor sie mit ihrer Interpretation seiner Geschichte begann.
»So wie Sie die Umstände dargelegt haben, kann man Ihre Wut leicht verstehen, jedoch nicht die Tätlichkeiten. Kennen Sie die Bezeichnung ›Aussetzer‹?«
Bosch schüttelte den Kopf.
»Man beschreibt damit einen Gewaltausbruch, der mehrere Streßursachen hat. Der Druck, unter dem die Person steht, wächst, bis er in einem kurzen Moment entweicht – meistens gewalttätig und oft gegen eine Person gerichtet, die nicht ausschließlich verantwortlich für den Streß ist.«
»Erwarten Sie nicht von mir, daß ich Pounds als unschuldiges Opfer ansehe!«
»Das ist auch nicht nötig. Sie sollen nur diese Situation betrachten und wie es dazu kommen konnte.«
»Ich weiß nicht. So was Beschissenes passiert halt.«
»Wenn Sie jemanden körperlich angreifen, fühlen Sie dann nicht, daß Sie sich auf das Niveau des Mannes begeben, der laufengelassen wurde?«
»Nicht im geringsten, Doktor. Sie können mein ganzes Leben unter die Lupe nehmen. Sie können auch Erdbeben, Feuer, Überschwemmungen und sogar Vietnam mit in Betracht ziehen. Aber als ich mit Pounds in dem Glaskasten war, war das alles irrelevant. Nennen Sie es einen ›Aussetzer‹, oder wie Sie wollen. Manchmal spielt nur der Moment eine Rolle, und in jenem Moment tat ich das Richtige. Falls es der Zweck dieser Sitzungen ist, einzusehen, daß ich falsch gehandelt habe, können wir das Ganze vergessen. Irving hat mich vor kurzem im Parker Center festgehalten und gesagt, ich solle über eine Entschuldigung nachdenken. Scheiß drauf. Ich hab’ richtig gehandelt.«
Sie nickte und setzte sich anders hin. Sie sah jetzt verstörter aus als während seines langen Ausbruchs zuvor. Dann schaute sie auf ihre Uhr und er auf die seine. Die Sitzung war zu Ende.
»Ich schätze«, sagte er, »ich habe die Psychotherapie um hundert Jahre zurückgeworfen.«
»Nein, überhaupt nicht. Je mehr man eine Person und seine Geschichte kennt, desto mehr versteht man, warum bestimmte Sachen passieren. Das gefällt mir an meinem Job.«
»Mir auch.«
»Haben Sie seit dem Vorfall mit Lieutenant Pounds gesprochen?«
»Ich habe ihn gesehen, als ich die Schlüssel für meinen Wagen abgegeben haben. Er hat ihn mir weggenommen. Ich bin in sein Büro, und er wurde fast hysterisch. Er ist klein, und ich glaube, er ist sich dessen bewußt.«
»Das ist oft so.«
Bosch beugte sich vor und wollte aufstehen, als er den Umschlag bemerkte, den sie zur Seite geschoben hatte.
»Was ist mit den Fotos?«
»Ich wußte, daß Sie noch mal darauf zu sprechen kommen würden.«
Sie betrachtete den Umschlag und runzelte die Stirn.
»Ich muß drüber nachdenken. In mehr als einer Hinsicht. Kann ich sie behalten, solange Sie in Florida sind, oder brauchen Sie sie?«
»Sie können sie behalten.«
22
U m vier Uhr vierzig kalifornischer Zeit landete das Flugzeug in Tampa. Bosch hing verschlafen am Fenster und erlebte seinen ersten Sonnenaufgang in Florida. Während das Flugzeug ausrollte, nahm er seine Uhr ab und stellte sie drei Stunden vor. Die Idee, im nächstmöglichen Motel richtig zu schlafen, war verlockend, aber er hatte keine Zeit. Nach der Karte des Autoclubs waren es mindestens zwei Stunden Fahrt bis Venice.
»Es ist
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