Der letzte Drachenlord - Hatfield, M: Der letzte Drachenlord
sie hatte gehorcht. Zum zweiten Mal in ihrem Leben war sie seinem Befehl ohne Widerspruch gefolgt. Und nun bedauerte sie das zutiefst. Beim letzten Mal hatte sie ihn beinahe verloren. Dieses Mal würde es sicher nicht viel besser laufen.
Eine Schneeflocke setzte sich auf ihre Nase. Tallon schüttelte sie ab und blickte hoch in den Nachthimmel. In der Ferne war etwas zu erkennen, das violett leuchtete. Es hing über einer Bergkuppe, wurde manchmal von Schneefall und Wolken bedeckt, trat dann wieder hervor. Tallon wollte das Licht zunächst einfach ignorieren. Aber es schien um den Berg herumzuschweben. Das musste Griffon sein, der Jäger. Er war der einzige Drache von violetter Farbe und von solcher Größe, der es wagen würde, bei diesem entsetzlichen Wetter draußen rumzufliegen.
Beim Gedanken an ihn wurde Tallon plötzlich ganz warm ums Herz. Obwohl sie es sich selbst nicht erklären konnte, ertappte sie sich immer öfter dabei, wie sie an den Jäger dachte. Wo er wohl herkam, wieso er jetzt bei ihnen war, warum er nie über seine Vergangenheit sprach, und vor allen Dingen, warum er so einsam und besessen war.
Tallon fühlte sich ihm irgendwie verbunden, hatte aber keine Erklärung dafür. Als ob ausschließlich er die Dunkelheit in ihrem Innern bemerkte. Als ob er denselben Seelenschmerz in sich spürte wie sie, aber irgendwie damit zurechtkäme.
Tallon beobachtete, wie er mit der Geschicklichkeit eines Adlers und der Schönheit eines Engels seine Bahnen am Himmelzog, und vergaß für einen kurzen Augenblick, wie entsetzlich sie sich fühlte.
„Hier steckst du also.“
Tallon blickte sich um und rieb sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. Falcon kam auf sie zu. Sie war verärgert. Normalerweise fand sie in seiner Gegenwart Trost, aber nicht in dieser Nacht. Er wirkte ganz ruhig, als würde er keinerlei Trauer spüren, und das machte sie wütend.
„Du solltest um diese Zeit nicht allein hier draußen sein.“
„Ich kann schon auf mich selbst aufpassen, schönen Dank“, sagte sie sarkastisch.
Er runzelte die Stirn. „Das weiß ich doch. Aber das meine ich nicht. Es ist eiskalt hier draußen. Du holst dir noch den Tod.“
Sie wollte schon sagen, dass ihr das ganz egal wäre, überlegte es sich aber anders. Falcon war für sie immer wie ein Fels in der Brandung gewesen, auf den sie sich verlassen konnte. Sie wollte ihn ebenso wenig verärgern, wie sie wollte, dass Declan diese verdammte Vampirin liebte.
Sekunden vergingen, dann Minuten, und sie hockte reglos da. Falcon ließ ein genervtes Seufzen hören. „Wieso kommst du nicht wieder mit rein?“
Tallon sah auf und blickte auf die schwielige Hand, die er ihr hinhielt. Nimm seine Hand und lass dich von ihm hineingeleiten, mach einfach weiter wie immer, ohne Declan, schoss es ihr in den Kopf.
Aber ihr Zorn war größer als die Resignation. „Wieso lässt du mich nicht einfach in Ruhe?“, schimpfte sie und erhob sich.
Er streckte die Arme nach ihr aus. „Tallon, ich weiß, dass es dir nicht gut geht …“
Wütend wehrte sie ihn ab. „Du hast überhaupt keine Ahnung, wie ich mich fühle, also sei nicht so gönnerhaft.“
Falcon rührte sich nicht. Dann ließ er den Arm sinken und biss die Zähne zusammen. Der Wind wirbelte dunkle Locken um sein schönes Gesicht. „Du hast Angst, jemanden zu verlieren, den du liebst.“ Seine Augen fixierten sie, als könnte er ihr in dieSeele blicken. „Und ich weiß ganz genau, wie sich das anfühlt.“
Nicht das schon wieder, und erst recht nicht jetzt. „Falcon, bitte tu das nicht“, begann sie, aber er machte einen Schritt auf sie zu, seine Augen glühten vor Liebe zu ihr, und sie verstummte.
„Was soll ich nicht tun? Ich soll dir nicht sagen, dass ich dich liebe? Ich soll der Frau, die ich liebe, nicht sagen, dass es mich fast umbringt, sie leiden zu sehen und nichts tun zu können? Ich soll dir nicht sagen, wie sehr es mich quält, nicht helfen und deinen Schmerz nicht lindern zu können, obwohl alles in mir danach schreit?“
„Stopp“, flüsterte sie. Sie wusste, wie schwer es ihm fiel, seine Gefühle offen auszusprechen. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit wäre sie wahrscheinlich entzückt gewesen, diese Worte von ihm zu hören.
Noch mehr Schuld, noch mehr Schmerz. Hatte sie nicht schon genug davon? Eigentlich wünschte sie sich, überhaupt nichts mehr fühlen zu müssen. Wünschte sich, ihr Körper wäre so zerschlagen wie ihre Seele. Vielleicht saß sie deshalb hier in der Kälte:
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