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Der letzte Karpatenwolf

Der letzte Karpatenwolf

Titel: Der letzte Karpatenwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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weit nördlich des Platzes, an dem ihn Vera Mocanu verlassen hatte. Er war, nachdem er die russische Kolonne auf der Straße gesehen hatte, weitergezogen, weiter hinein ins Felsengebirge, höher kletternd, in Gegenden vordringend, die nie ein Mensch betreten hatte, weil sie nichts boten, was den Menschen nutzen konnte. Dort lebte Michael drei Wochen von einem Wildschwein, dessen Fleisch er in einem Schneeloch einfror und sich jeden Tag mit dem Beil soviel abhackte, wie er brauchte.
    Über dem Feuer taute er das Fleisch dann auf. Es war wunderbar frisch und saftig.
    Die völlige Einsamkeit zerdrückte ihn fast. Er hatte nie geglaubt, daß Stille so schrecklich sein konnte, so nerventötend.
    Um nicht irr zu werden, begann er zu singen. Er sprach mit sich selbst … er führte lange Gespräche in zwei Tonhöhen, um das Gefühl zu haben, nicht allein zu sein. Er erzählte Sagen und Märchen … als er alle ihm bekannten Märchen so oft erzählt hatte, daß auch dies begann, ihn irrezumachen, begann er, mit spitzen Steinen an die Höhlenwand Bilder zu zeichnen. Er schabte Tiere in das Gestein, Gestalten, Landschaften, Häuser und gab ihnen Namen und Schicksale.
    Weihnachten – er führte genau Buch in einem Taschenkalender, in dem er jeden Tag wegstrich und aus dem er alles auswendig lernte (Postgebühren, Maße und Gewichte, Autokennzeichen und geografische Angaben) – suchte er einen Tannenbaum. Er fand eine verkrüppelte Fichte, fällte sie und schleppte sie zur Höhle. Dort schmückte er sie mit Papierkugeln, mit leeren Patronenhülsen und MG-Gurten, zündete zwei der wertvollen Hindenburglichter an und sang Weihnachtslieder seiner Heimat.
    Es war eine gespenstische Szene … ein einsamer Mann, umgeben von der Stille des Nichts, saß vor einem mit Patronen und MG-Gurten geschmückten Baum, das bleiche, verhungerte Gesicht von zwei kleinen Kerzen beleuchtet, und sang mit dünner, fast kindlicher Stimme das ›Stille Nacht … heilige Nacht … ‹ und ›Süßer die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit … ‹
    Dann betete er, ganz in die Worte versunken.
    Gegen Morgen, am ersten Weihnachtstag, tötete er einen Hasen, der in der Falle saß. Der Hunger besiegte das Fest der Liebe.
    Während er den Hasen über dem kleinen Feuer briet, dachte er an sein Zuhause.
    An den Weihnachtsbaum im guten Zimmer, an den Kuchen, an die Pfeffernüsse und Äpfel, an die Geschenke, die jedes Jahr die gleichen waren und doch immer wieder neu und herrlich, weil es Weihnachten war: ein Hemd, ein Paar Strümpfe, neue Schuhe, ein Schal …
    Und der Vater bekam eine neue Pfeife, die Mutter eine neue Schürze. …
    Stille Nacht … heilige Nacht …
    Am zweiten Weihnachtstag begann es zu schneien. Es schneite eine Woche lang, ohne Pause. Die Welt schien unterzugehen in einer weißen Sintflut.
    Eine Woche lang lag Michael in der hintersten Ecke seiner Höhle, dick in Decken gewickelt, sprach wieder mit sich selbst und kratzte Tiere in die Felswand.
    Er kämpfte wieder gegen den Irrsinn und fürchtete sich, der Unterlegene zu werden.
    Als er die große Stille nicht mehr aushielt und die Beschäftigung mit sich selbst in hysterisches Schreien ausartete, überwand er seine Scheu vor den fremden Bauern und seine Angst, von den Russen gefangengenommen zu werden. Er stieg aus seinen Urweltfelsen hinab in die kleinen Bergdörfer, die meistens nur aus ein paar Hütten bestanden, aus Hirtenansammlungen, die als ›Kombinat‹ die jetzt gemeindeeigenen Schafherden beaufsichtigten und die neue Melkverordnung, nach der jeder Bauer soviel Tage die ganze Herde melken durfte, wie er Schafe zur Verfügung gestellt hatte, peinlich genau überwachten.
    Das Rumänisch, das er von Vera Mocanu gelernt hatte, kam ihm jetzt sehr zustatten. Er konnte die wichtigsten Redensarten und Lebensmittel hersagen, er konnte sich verständlich machen, und er konnte – wenn auch viel erratend – verstehen, was ihm die Bauern sagten.
    »Gestern waren Russen hier. Geh nach Süden, Deutscher.«
    »Im nächsten Dorf liegt eine Gruppe Miliz.«
    »Dreißig Kilometer weiter haben die Sowjets eine neue Station errichtet.«
    »Die Russen sind über die deutsche Grenze gekommen! Sie marschieren nach Berlin. Kennst du Berlin, Soldat?«
    Man zeigte Michael die Zeitungen. Er glaubte es. Deutschland hatte den Krieg verloren, soviel erkannte er.
    »Wo willst du denn noch hin?« fragte ihn einmal eine alte Bäuerin, die ihm Ziegenkäse und Kartoffeln mitgab. »Warum wanderst du

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