Der letzte Karpatenwolf
Schuß peitschte durch den Morgen … am Ohr vorbei, es noch anreißend, zischte die Kugel neben dem Wolf ins Gras. Gleichzeitig sprang Michael zur Seite. Noch im Sprung versuchte der Wolf, sich in die neue Richtung zu drehen … um Zentimeter nur flog sein Körper an Michael vorbei.
Kaum auf der Erde, wirbelte er sich herum und sprang von neuem. Am Waldrand heulten die fünf wartenden Wölfe auf. Es war, als feuerten sie ihren Leitwolf an, den armseligen Menschen, der ihnen den Weg zu den Schafen verwehrte, zu reißen. Michael drückte wieder ab … aber nichts geschah. Die Pistole blieb stumm … es knackte nur … die Patrone mußte feucht geworden sein. Der Schuß versagte.
Noch einmal konnte Michael dem Sprung ausweichen … das dritte Mal würde es unmöglich sein, das wußte er. Die Wölfe am Waldrand waren aufgestanden und kamen langsam, lauernd, näher.
»Hilfe!« schrie Michael grell. »Hilfe! Hilfe!«
Er sah nicht, wie aus der Hütte schon bei dem Schuß ein Hirte gerannt war. Er hatte kurz den Hang hinaufgesehen, war dann zurück in die Hütte gerannt und kam jetzt mit einem eisenbeschlagenen Knüppel und einem langen Schlachtmesser zurück. Er hetzte die Wiese hinauf, Knüppel und Messer weit vor sich her streckend.
»Stehenbleiben!« schrie er auf deutsch. »Bleib stehen, Kumpel!«
Michael hörte es nicht mehr. Er war weggelaufen. Er lief in den dritten Sprung des großen Wolfes hinein. Plötzlich krachte eine schwere Last auf seine Schulter, er spürte, wie messerscharfe Zähne in sein Fleisch drangen, wie die Jacke knirschte und riß, er spürte Blut über Nacken und Arm und Brust rinnen, der heiße Atem des Tieres war neben seiner Wange, ein wahnsinniger Schmerz durchdrang ihn, vom Schulterblatt ausgehend durch den ganzen Körper laufend … dann fiel er, den Wolf noch im Nacken, in das Gras und wälzte sich schreiend und halb irr vor Angst und Grauen.
Er spürte nicht in seiner blinden Verzweiflung, daß er allein im Gras lag … der Wolf stand hoch aufgerichtet neben ihm und starrte knurrend den neuen Menschen an, der brüllend die Wiese hinaufkam.
Am Waldrand liefen die anderen Wölfe unruhig hin und her … sie wagten nicht, näherzukommen. Der Leitwolf duckte sich wieder zum Sprung … seine großen Augen waren jetzt rotumrändert. Blut schrie aus ihnen. Mordlust. Freude am Kampf. Hunger. Haß. Und Angst …
Der Hirte blieb stehen. Er warf den eisenbeschlagenen Knüppel dem Wolf entgegen. Im gleichen Augenblick schnellte das Tier vor, mit einem weiten, ungeheuren Sprung.
Hoch zuckte das Messer des Hirten. Es stieß vor, der Brust und der geöffneten Schnauze entgegen. Mit beiden Beinen stemmte sich der Hirte in die Wiese … Nur nicht umfallen, dachte er. Wer umfällt, ist der Unterlegene.
Mit einem brüllenden Schrei sprang der Wolf in das lange Messer. Es schlitzte seine Brust bis auf das Brustbein auf … taumelnd kam er auf der Erde an, drehte sich, leckte sich schnell über die gräßliche Wunde und sprang wieder. Aber dieser Satz war nicht mehr kraftvoll … es war ein Entgegenwerfen, ein jammerndes Nichtaufgeben.
Der Hirte stieß wieder zu. Auch für ihn gab es in dieser Stunde kein Mitleid mehr … immer und immer wieder fuhr die bluttriefende Messerklinge in den zuckenden Körper, bis er sich streckte und die großen, grausamen Augen glasig wurden.
Noch einmal heulte der große Wolf auf … es war ein grausiges Heulen, langgezogen, im Blut erstickend … Und die Wölfe am Waldrand drehten sich um und rannten zurück in die Felsen.
Der Hirte ließ den toten Tierkörper liegen. Er beugte sich über den ohnmächtig gewordenen Michael, nahm ihn auf seine Schulter und stieg mit ihm die Wiese hinab zur Blockhütte.
Ein Deutscher, dachte er. Ob er gehört hat, was ich gerufen habe?
Er legte Michael auf ein Holzbett, das mit Heu gefüllt und mit einem Fell überzogen war, ging dann zu einem Schrank und holte Verbandszeug, Alkohol und sogar eine Flasche mit Jod hervor und begann, Michaels große Schulterwunde auszuwaschen und zu verbinden.
Das erste, was Michael sah, als er die Augen aufschlug, war eine Öllampe, die von einer rohen Balkendecke hing.
Hinter dieser Öllampe schwamm im Halbdunkel ein bärtiges Gesicht, braun und aus einer zotteligen Pelzjacke wachsend wie ein verwitterter Baumstumpf.
»Gott sei mit dir«, sagte der Mund, der irgendwo unter diesen Haaren verborgen war. Er sprach Rumänisch, und Michael verstand es mühsam. »Hast du Schmerzen?«
Michael
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