Der letzte Karpatenwolf
noch?«
»Ich weiß nicht«, sagte Michael ehrlich. Doch dann wurde sein Gesicht blaß, und er fügte leise hinzu: »Ich habe Angst.«
»Hier tut dir keiner etwas, Soldat.«
»Aber die Russen …«
»Sie sind nicht überall. Wie lange willst du denn wie ein Wolf leben?«
»Bis der Krieg zu Ende ist!«
»Und wenn er noch ein Jahr dauert? Oder zwei Jahre?«
Michael hob die Schultern. Ihn fror es bei dem Gedanken. Noch zwei Jahre allein in den Bergen … allein mit den Füchsen und Hasen, mit Habichten und Bussarden … allein mit der sengenden Hitze des Sommers und der ins Mark dringenden Kälte des Winters. Allein, nur mit seiner Stimme und dem Kratzen, wenn er Bilder in die Felswände ritzte, sich aufbäumend gegen diese Stille, die das Pulsen seines Blutes zu Donnerschlägen werden ließ, die seinen ganzen Körper erschütterten.
»Du solltest dich in einem Dorf verbergen …«, sagte die alte Bäuerin.
»Es wird keiner wagen.«
»In diesem Dorf nicht«, sagte die Bäuerin schnell. »Es liegt zu nahe an der Hauptstraße. Und immer kommen die Russen hierher, um Schweine und Kälber zu holen. Aber mehr im Norden … da gibt es Dörfer …«
Michael ging wieder in die Berge. Einsam, durch den hüfthohen Schnee stampfend, pfeifend, um die Angst zu überwinden.
Er wanderte weiter … wieder nach Norden.
Am nächsten Tag nahm er seinen ›Bettelsack‹, steckte die 08-Pistole in die Tasche, nahm zwei Reservemagazine mit und machte sich auf den Weg, ein Dorf zu suchen. Er wußte, daß östlich der Hütten, in denen er bisher gebettelt hatte, ein größeres Dorf liegen mußte. Seine bisherigen Geber waren ihm verschlossen worden. Seit vierzehn Tagen lag eine Milizpatrouille in einer der Hütten. Sie lauerten einer Gruppe Partisanen auf, die man gesichtet haben wollte.
Drei Stunden stieg Michael durch die Felsen. Sie waren nicht mehr so rauh, Fichtenwälder krochen die Berge hinauf, Kiefern, sogar Birken … Wiesen begannen … er sah nach drei Stunden die erste Schafherde. Sie weidete in dem noch kärglichen Gras einer Alm. Eine Blockhütte war an die Bergwand gelehnt, aus dicken Stämmen gezimmert. Rauch zog in dünnen Schwaden über die Weide. Der aus Feldsteinen gemauerte Kamin qualmte.
Ein Mensch, dachte Michael glücklich. Ein Schäfer … er hat Milch, er hat Käse und Hammelfleisch. Und er wird ein Herz haben … das ist das wichtigste auf der Welt.
Er klemmte den leeren Sack unter den Arm, sah noch einmal auf den Rauch aus dem Kamin und trat dann aus dem schützenden Wald hinaus auf die Wiese.
Verwundert bemerkte er, wie die Schafe sich zusammengedrängt hatten. Sie bildeten einen eng zusammengepreßten Haufen. Die stärksten Tiere standen draußen, gesenkten Kopfes, blökend und die Beine gegen den Boden gestemmt.
Michael blieb stehen. Nanu, dachte er. Wie können sie vor einem Menschen eine solche Angst haben? Sehe ich schon so verwildert aus, daß selbst die Tiere vor mir erschrecken?
Er wollte die Hände an den Mund legen und zu der Blockhütte hinaufrufen, als er hinter sich ein Hecheln und leises Trippeln hörte. Es war wie das Schaben eines großen Hundes, der lange gelaufen war und nun müde, mit heraushängender Zunge, die letzten Schritte macht.
Michael hatte es nie erlebt, aber er wußte, was hinter ihm stand. Sein Gesicht wurde leichenblaß und kantig. Er tastete nach der Tasche, riß dann die 08-Pistole heraus und warf sich im gleichen Augenblick auf die Seite.
Vor ihm stand ein großer, struppiger Wolf. Seine großen Augen sahen ihn starr und kalt an. Am Waldrand saßen fünf andere Wölfe, etwas kleiner als der Leitwolf, genauso struppig, genauso hungrig, genauso vom Winter gezeichnet, genauso blutdurstig beim Anblick der Schafherde. Sie saßen mit spitzen Ohren und lugten auf ihren Leitwolf, der dem Menschen gegenüberstand. Hechelnd, die Zunge zwischen den spitzen Zähnen heraushängend, mit zitternden Flanken, sprungbereit und gnadenlos.
Michael hob die Pistole. Er zielte auf den Kopf des Wolfes. Hinter ihm schrie die Herde und drängte sich noch mehr zusammen.
Der große Wolf schien zu ahnen, was der Mensch vor ihm wollte. Er duckte sich plötzlich, die Zunge verschwand, nur das spitze Gebiß blinkte, der schmale Kopf schien noch schmäler zu werden … wie die Spitze einer Lanze, die sich gleich in den gegnerischen Körper bohren würde. Dann schnellte er … im Fliegen heiser aufbellend … ein Bellen, das mehr wie ein Triumphschrei klang …
Michael drückte ab. Der
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