Der letzte Karpatenwolf
den Käsen nach hinten auf den Rücken.
»Ich gehe jetzt einen Arzt holen, Kumpel … Wie heißt du eigentlich, Kumpel?«
»Michael Peters. Ich bin aus Westfalen. Mein Vater hat dort einen schönen Hof.«
»Ich bin Friseur.« Er lachte und strich sich über sein struppiges Gesicht. »Mensch – wenn meine Kunden mich so sehen würden! Ich war mal der glattrasierteste Mann von Berlin!« Er lachte wieder und schüttelte den Kopf. »Als ich die Meisterprüfung machte, bestand ich alles mit 'ner Eins! Theorie und Praxis … Und jetzt spiele ich einen taubstummen Deppen! Kinder, was der Krieg alles aus einem macht.«
Er deckte über das Feuer eine Eisenplatte. Im Raum wurde es dunkel. Michael schloß die Augen. Er war plötzlich schrecklich müde und wundervoll glücklich. Er kam sich geborgen vor, gerettet, erlöst. Ein Mensch war um ihn … nach Monaten wieder ein Mensch … ein Kamerad.
Paul Herberg öffnete die Tür. »Du kannst hierbleiben, bis du ausgeheilt bist. Aber dann … Zwei doofe Hirten glaubt keiner. Doch erst hole ich einen Arzt und höre mich um, ob die Luft rein ist … Schlaf ein bißchen, Michael … In zwei Stunden bin ich zurück.«
»Ich danke dir, Paul«, sagte Michael schwach.
Er hörte, wie Herberg von draußen die Hütte abschloß. Es mußte ein großes Vorhängeschloß sein, denn er vernahm, wie es mehrmals gegen die Tür schlug, als der Hirte schon gegangen war.
Eine Stunde etwa lag Michael wach auf seinem Fellbett. So müde er war … er konnte nicht einschlafen. Wie mit Blei durchzogen waren seine Beine und Arme, und auch der Kopf war schwer, als sei er gefüllt mit Steinen.
Dann hielt es ihn nicht länger auf dem Bett. Er stützte sich mit dem unverletzten Arm auf und stemmte sich mit den Beinen hoch. Taumelnd ging er durch die Hütte, drehte die Öllampe wieder stärker auf und sah aus dem verhangenen Fenster.
Draußen war es Nacht. Die Schafe standen dicht gedrängt in einem aus Knüppeln gezimmerten offenen Stall. Die Wälder und Berge am Ende der Wiese waren schwarz. Eine hochaufragende, feindliche Wand. Dort habe ich Monate gelebt, dachte Michael. Wie kann ein Mensch so etwas aushalten? Monate wie ein gehetztes Wild in Höhlen und unter Bäumen, in Felseinbuchtungen und zwischen aufgeschichteten Steinen. Nicht endende Tage mit Hunger und Durst, Kälte und glühender Sonne, Angst und Hoffnung und immer wieder das Bewußtsein der Ausweglosigkeit.
Michael ließ den wollenen Vorhang vor das Fenster fallen. Schwankend ging er weiter im Raum umher … zum Herd, zum Schrank … zu einem an der Blockwand hängenden Bord. Dort fand er ein halbes Brot und einen Topf mit Milch. Heißhungrig riß er das Brot an sich und biß hinein. Vor Erregung konnte er kaum kauen … er weichte das Brot im Mund auf und schluckte die pappigen Stücke hinunter.
Dann sah er einen Spiegel.
Zögernd schielte Michael zu ihm hin. Ein Spiegel nach einundeinhalb Jahren … er würde ihm das Bild entgegenwerfen, wie ein Mensch aussah, der viele Monate den Wölfen gleich gelebt hatte.
Er überwand sich und trat vor den Spiegel. Stumm starrte er das Gesicht an, das ihm gegenüberstand.
Große, leere Augen …
Eine verbundene Schulter …
Ein verwilderter, blonder Bart …
Das Gesicht eines Knaben, den man zwang, ein Greis zu werden.
»Das bin ich?« stotterte Michael. Er stützte sich gegen die Hüttenwand und suchte in dem Spiegelbild nach einem Zug des früheren Michael Peters. Er fand nicht eine Linie wieder, nicht einen Fleck.
Da überkam ihn das Grauen. Der Krieg hatte sein Gesicht genommen. Er erkannte sich nicht wieder … er sah einen Fremden an, und doch war es er.
Michael schloß die Augen. Er hob die Faust und stieß sie in den Spiegel. Klirrend zersprang die Scheibe, schnitt seine Finger auf … was bedeutete das wenige Blut schon, was war der billige Schmerz gegen die Überlast des Erkennens: Ich bin nicht mehr ich! Ich bin ein Fremder!
Weinend saß er dann am Ofen. Er begriff es einfach nicht.
Das Osterfest war in die Nacht hinübergeleuchtet.
Große Feuer brannten vor der Kirche und auf dem Dorfplatz.
Zwei Hammel brieten über ihnen am Spieß. Der Geruch des gebratenen Fleisches zog durch alle Winkel. Die Musikanten spielten immer noch ihre Walzer und Polkatänze, in den Buden wurde Wein verkauft und Schmalzgebäck, das man mit Honig gefüllt hatte. Außerhalb des Feuerkreises saßen die alten Bauern an langen Tischen, rauchten und tranken und sahen der Jugend zu, die im Schein der
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