Der letzte Liebesdienst
hatte sie das Gefühl gehabt, dass der Zug längst ohne sie abgefahren war, ohne dass sie die Abfahrtszeit überhaupt mitbekommen hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass es fünf vor zwölf war. Oder es nicht wissen wollen.
Argumentieren war sinnlos und Gewinnen war unmöglich. Dafür war es längst zu spät.
Sie hatte geahnt, dass Lara sie nicht liebte. Spätestens, als Lara sich Bedenkzeit für die Beantwortung des Heiratsantrags ausgebeten hatte, hatte sie es gewusst. Vorher hatte sie sich da vielleicht noch ein paar Illusionen gemacht, denn die Zeit mit Lara war so schön gewesen. Die schönste Zeit ihres Lebens. Nie zuvor hatte sie sich mit einer Frau so gut verstanden, so harmoniert, auf jeder Ebene. Lara wusste oft schon, was sie dachte, bevor Elisabeth es überhaupt ausgesprochen hatte.
Sie hatte geglaubt, sie hätte endlich ihre Oase gefunden, die Möglichkeit, ihr Leben in andere Bahnen zu lenken, ohne es zu sehr zu verändern. Eine Frau, die sie verstand, ein Haus, Kinder – und Lara hatte sogar schon einen Hund und eine Katze. Die perfekte Vorstadtidylle.
Sie hätte wissen müssen, dass es das nicht gab: Perfektion. Sie hatte es oft genug erlebt, gerade in ihrem Beruf.
Aber auch in ihrem Privatleben – sofern sie denn eins hatte. Wie oft hatte sie sich mit weit weniger als Perfektion zufrieden gegeben? Deborah und all die anderen . . . das war meilenweit entfernt von perfekt.
Aber Lara . . . Lara hatte etwas an sich, das Elisabeth daran erinnerte, dass es vielleicht doch so etwas wie Perfektion geben könnte. Hatte eine Sehnsucht in ihr geweckt nach Ruhe und Geborgenheit, nach einem Zuhause, das nicht nur aus einem mit Akten vollgestopften Zimmer bestand.
Allerdings hätte sie nie damit gerechnet, dass Lara ihre Sehnsucht erwidern könnte. Sie war lange Zeit eine von Elisabeth sehr geschätzte und manchmal in unbeobachteten Momenten mit einem wohlwollenden Blick bedachte Mitarbeiterin gewesen, über deren sexuelle Ausrichtung sich Elisabeth keine Gedanken gemacht hatte. Sie war damit zufrieden gewesen, dass Lara nicht wie all die anderen mit allem, was man noch entfernt unter männlich einordnen konnte, flirtete oder sich gar auf irgendwelche Affären einließ.
Nie war so etwas geschehen, und als Lara belästigt wurde, hatte Elisabeth es sofort unterbunden. Das hätte sie für jede Frau getan. Keine Frau musste sich so etwas bieten lassen. Aber Lara zu beschützen war ihr ein besonderes Vergnügen gewesen. Sie hatte selbst über sich gelacht, als sie merkte, dass sie sich wie ein edler Ritter benahm, der eine Jungfrau in Nöten gerettet hatte. Lara hatte sie davon natürlich nie etwas gesagt, Elisabeth wollte weder Dank noch Bewunderung für etwas, das sie eigentlich für selbstverständlich hielt, wenn viele andere das auch nicht taten.
Dann, als Lara immer dünner und dünner wurde, als die Ringe unter ihren Augen kaum noch zu übersehen waren und als sie immer mehr Fehler machte, die zuvor undenkbar gewesen wären, hatte Elisabeth sich schon so ihre Gedanken gemacht. Sie hatte auf eine unglückliche Beziehung getippt, auf einen Mann, den Lara geliebt und der sie verlassen hatte, auf eine ungewollte Schwangerschaft oder sogar Abtreibung, endeffektlich dann auch noch auf Magersucht, aber nie hatte sie angenommen, dass Lara auf Frauen stehen könnte. Und schon gar nicht, dass ihre Frau qualvoll gestorben war und Lara traumatisiert zurückgelassen hatte. Eine griechische Tragödie.
So schrecklich all das gewesen war, aber auch da hatte Elisabeth Laras Diskretion bewundert. Lara hatte nie geklagt, nie etwas verlangt, nichts in Anspruch genommen von all den sozialen Gefälligkeiten, die andere so selbstverständlich für sich forderten. Sie hatte still gelitten, und erst, als Elisabeth ihre Arbeitsqualität nicht mehr akzeptieren konnte, war sie zumindest ein klein wenig aufgewacht.
Elisabeth hatte nicht in Laras Privatleben eindringen wollen, genauso, wie sie es hasste, wenn jemand versuchte, in ihr eigenes Privatleben einzudringen, und dadurch hatte es sehr lange gedauert, bis sie sich endlich dazu durchringen konnte, den entscheidenden Schritt zu tun, Lara einzuladen – und in Folge davon zu erfahren, was der Grund für Laras Zustand war.
Laras Geschichte hatte Elisabeth zutiefst berührt, und wieder war dieser Drang in ihr aufgeflammt, Lara zu beschützen, alles von ihr fernzuhalten, was ihr wehtun könnte, ihr alles zu geben, was sie sich wünschte. Sie hätte ihr die Sterne vom
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