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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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ungestörte Schnee tief und trocken und unberührt lag, und sah über die Dächer von Clerkenwell hinaus. Der Schnee lässt die Städte wieder unschuldig werden und macht die Zerbrechlichkeit der menschlichen Geste angesichts der Leere deutlich. Ich wollte erst Madeline wecken, um mit ihr die merkwürdig stille Schönheit des Anblicks zu teilen – spürte aber sofort, wie dieser Impuls im Glutofen des Absurden verschwand, wohin all solche Impulse von mir verschwinden müssen, begleitet von einem Gefühl toten Gelächters. Nach einer Weile kann man über Einsamkeit nur noch lachen. Ich trank die Minibar leer, erwies den verschiedenen spirituösen Persönlichkeiten meine Reverenz. Ich sah fern.
    Den Teil der Geschichte behalte ich für mich.
    Bis heute.
    Streufahrzeuge mühten sich mit höflicher britischer Ineffizienz durch die Dunkelheit, doch als die Küche des Zetter öffnete, schneite es schon wieder heftig. Die Londoner würden aufwachen, aus dem Fenster schauen, dankbar sein. Nicht das Übliche. Gott sei Dank. Alles, egal was, Hauptsache, nicht das Übliche. Der Tagesanbruch war die lange Belichtungszeit einer Daguerreotypie. Madeline wachte auf – das tut sie mit einer verblüffenden, energischen Abruptheit – und machte mit einem Zucken ihrer Knöchel deutlich, dass sie auf sexuelle Entwarnung wartete. »Warum springst du nicht unter die Dusche«, sagte ich, »und ich bestelle uns Frühstück.« Genau darauf wartete ich, als es eine Viertelstunde später (das Vorspiel, das Warmlaufen vor Madelines Waschung hatte kaum begonnen) an der Tür klopfte.
    »Hey«, sagte Ellis lächelnd, als ich öffnete. »Nicht der Zimmerservice.«
    Er wusste, er hatte nur einen Augenblick Zeit, bevor ich ihm die Tür vor der Nase zuschlug oder mich auf ihn stürzte, also hob er sofort die Hände und erklärte: »Unbewaffnet. Ich will nur reden.« Leise Stimme, kalifornischer Akzent. Vor drei Jahren hatten Grainer und er mich in einer frostigen Nacht in den Dolomiten gejagt und beinahe erlegt. Er hatte sich nicht verändert: taillenlanges weißes Haar, Mittelscheitel, wachsbleiches Gesicht, eingefallene Wangen. Einen Augenblick lang dachte man an einen Albino – doch die Augen störten: Lapislazuli, voller irrer Selbstgewissheit. Bei normaler Körpergröße wäre er ein grotesk gutaussehender Mann gewesen. Mit knapp zwei Metern hatte er die Grenze zur Science-Fiction überschritten. Man wurde das Gefühl nicht los, er habe sein Leben als gertenschlanke Hippiebraut in San Francisco begonnen, nur um sich später auf diabolische Weise die Gene durcheinanderwürfeln zu lassen. Er trug eine schwarze Hose aus Leder und eine verblichene Jeansjacke.
    »Darf ich reinkommen?«
    »Nein, dürfen Sie nicht.«
    Er rollte mit den Augen, sagte: »Also wirklich, Jake, das ist doch –« und trat mir dann kräftig und akkurat zwischen die Beine.
    Ich konnte immer gut kämpfen, früher. Ich war gefährlich. Ich kann Karate, Kung-Fu, Jiu-Jitsu, ich weiß, wie man jemanden mit einem Haustürschlüssel umbringen kann. Allerdings muss man im Training bleiben, und ich habe schon seit Jahrzehnten als Mensch niemanden mehr geschlagen. Ich tat, was ein Mann in diesem Fall tut, ich holte in dem grellen Blitz plötzlich Luft, fiel auf die Knie, hielt mir die Weichteile, fiel zur Seite, wusste, dass ich nie wieder Luft schnappen würde. Ellis stieg in einer Wolke aus feuchten Fahrradstiefeln und pilzigem Fußgeruch über mich hinweg und schloss die Tür. Madeline nieste unter der Dusche. Ellis kümmerte sich nicht darum und setzte sich auf die Bettkante.
    »Jake«, sagte er. »Wir wollen, dass Sie eines wissen. Sie wissen sicher, worauf ich hinauswill?«
    Das wusste ich nicht, aber zu einer Reaktion war ich nicht fähig. Ich war zu gar nichts fähig, außer mir die Eier zu halten und immer weiter und weiter einzuatmen.
    »Ich wollte Ihnen nur sagen: Sie sind der Letzte. Darin sind sich alle Quellen einig. Es ist niemand mehr übrig. Es geht nur noch um Sie.«
    Ich schloss die Augen. Das nützte nichts. Ich schlug sie wieder auf. Alles, was ich wollte, war ausatmen, doch meine Lungen waren verschweißt. Ellis saß breitbeinig da und stützte die Ellbogen auf die Knie. Die Fenster hinter ihm waren voller blasser Wolken, vor denen der Schnee aussah wie rieselnde Asche. Die Geschichte hat dem Schnee neue Formen verliehen: Konfettiparaden; Nazi-Krematorien; Worldcup-Endspiele; der Ascheregen von 9 / 11 .
    »Haben Sie das gewusst?«, fragte Ellis.
    Ich

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