Der letzte Werwolf
schüttelte ganz vorsichtig den Kopf. Er zuckte nur abfällig mit den Schultern – es war ja klar, dass ich wohl kaum zugeben würde, das zu wissen, und damit verraten würde, dass es bei der WOKOP eine undichte Stelle gab –, dann ließ er den Kopf sinken und bewegte den Nacken, so als wolle er seine Muskeln lockern. Er atmete ein paarmal tief ein und aus, entspannte die Schultern, richtete sich auf und starrte mich an. »Ich spiele hier wohl die Rolle des anzüglich grinsenden Bösewichts«, meinte er. »Ich kann es spüren, es liegt so eine Art narrativer Zwang in der Luft. Eigentlich sollte ich jetzt aufstehen und auf Sie pissen oder so was.« Er hatte lange, knochige Finger, so hässlich flink wie die eines virtuosen Leadgitarristen. »Keine Sorge«, fuhr er fort, »mach ich nicht. Ich wollte Sie nur mal sehen, bevor wir … Sie wissen schon, Schluss machen. Ein letztes Hurra.« Er sah hinaus in den Schnee und sagte: »Himmel, dieses
Wetter
.« Ein paar Augenblicke schauten wir beide schweigend den herabwirbelnden Flocken zu. Dann drehte er sich wieder zu mir um. »Um ganz ehrlich zu sein«, erklärte er, »bin ich bei der ganzen Angelegenheit zwiegespalten. Eine zweischneidige Sache, oder? Da gibt es Grauzonen. Die Moral ist auf Annäherungswerte reduziert. Ich weiß, Sie wissen selbst, Jake, dass alle Menschen mehr oder weniger in Ordnung sind, so alles in allem. Schauen Sie sich doch mal diesen Kerl an, wie heißt er noch gleich, Fritzl, der seine Tochter jahrelang im Keller vergewaltigt hat. Der stört uns nicht sonderlich. Alles nur eine Frage der Psychologie, eine Frage der Ursache. Die Ermüdung nach dem Schock. Jenseits von Gut und Böse.«
Madeline stellte unter der Dusche den Brausekopf auf »Massage« und keuchte. Ellis stand unter Drogen, ging mir auf. Sein Gesicht war ganz feucht.
»Wir haben es vermasselt«, sagte er. »Sie aufzuspüren. Ein Agent aus Frankreich hat einen Verdächtigen bis zu uns verfolgt, und wie sich herausstellt, hat der Verdächtige Sie verfolgt. Wir waren davon ausgegangen, dass Sie immer noch in Paris sind.«
Mit dem absolut letzten Rest der eingesogenen Luft japste ich: »Und warum hat er mich nicht getötet?«
»Also wirklich, Jake. Sie gehören Grainer. Das wissen Sie doch. Das weiß die ganze Jagdgesellschaft, ganz WOKOP . Das ist in Stein gemeißelt.«
Der Schmerz breitete sich aus: Stiche im Unterleib, dunkelroter Kopfschmerz, etwas Krummes, Messerscharfes im Darm, der Drang, mich zu übergeben. Ich stützte mich auf einen Ellbogen und gab einen Rülpser von mir, der sich wie ein kleines Wunder anfühlte.
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, fuhr Ellis fort. »Es wird mir leid tun, Sie abtreten zu sehen. Ich mag solche Schlussszenen nicht, nicht in diesem Ausmaß, nicht gleich das Ende einer ganzen
Ära
.« Einer von Madelines Strümpfen lag neben seiner Hand. Er befingerte ihn beiläufig mit seinen fürchterlich weißen Spargelfingern, schien zum ersten Mal darüber nachzudenken, was ich die Nacht über getrieben hatte. Das alles hatte keinerlei Bedeutung für ihn. Ich erinnerte mich an Harleys Beschreibung von Ellis: in höchstem Maße gedankenverloren, hat eine undurchschaubare Betrachtungsweise, gegen die die eigene armselig erscheint. Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass das allein daher rührt, weil er halb verrückt ist. »Es gibt durchaus einen literarischen Anti-Höhepunkt dabei«, griff Ellis den Faden wieder auf und warf den Strumpf beiseite. »Grainer und Sie stehen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und er erkennt, dass Ihre Ermordung ihn seines Lebensinhalts beraubt, seiner Identität, also lässt er Sie leben. Ich hab das mit ihm besprochen. Er hat das durchaus nicht rundweg von sich gewiesen.«
Während er sprach, hatte ich verschiedene Positionen ausprobiert und hielt mich schließlich exakt so (erneut ein Beweis dafür, dass Gott tot ist, die Ironie aber quicklebendig), wie Madeline es letzte Nacht für den Analverkehr getan hatte. Humor erleichtert. »Aber er hat es von sich gewiesen«, quiekte ich mit Heliumstimme.
»Hat er. Er hat darüber nachgedacht, es erwogen und von sich gewiesen. Sohnesehre geht über alles.«
Sohnesehre. Vor vierzig Jahren hatte ich Grainers Vater gerissen und gefressen. Damals war Grainer zehn gewesen. Es gibt immer einen Vater, eine Mutter, eine Frau, einen Sohn. Das ist das Problem dabei, wenn man Menschen tötet und frisst. Eines der Probleme.
»Eine Schande«, krächzte ich. Ellis lachte
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