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Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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hörte sie die beiden kichern.
    »Wollte nur sagen, dass heute mein scheiß Geburtstag ist«, rief Lorena, plötzlich heulend. »Dreckschlampe!«, fügte sie hinzu und rannte davon.
    Im Lift drückte sie auf den obersten Knopf. Im sechsten Stock rannte sie durch den Gang bis zu der Tür mit der roten Aufschrift »Salida«. Ein Treppenhaus führte noch ein Stockwerk höher zu einer Tür, die aufs Dach führte. Lorena ging hinaus.
    Es war windstill, als hätte nie ein Sturm getobt. Es roch nach Zement und Teer. In einer Ecke standen eine Schubkarre mit Maurerwerkzeug und ein schmutzstarrendes Transistorradio.
    Lorena trat an die Brüstung. Tief unter ihr ein kleiner Platz mit ein paar übervollen Müllcontainern, der in einen Kinderspielplatz mündete. Sie war auf dem Weg zum Strand daran vorbeigegangen. Ein Gestell mit zwei nur noch an je einer Kette befestigten Kinderschaukeln, eine rostige, zerbeulte Rutschbahn, ein Sandhaufen, der als Hundeklo diente. Weiter vorne ein Stück Strand, auf dem jetzt ein paar steifbeinige Möwen stelzten. Hinter den beiden gleichhohen Nachbarhotels wölbte sich das vom Sturm immer noch aufgewühlte Meer. Es traf sich fast im gleichen Bleigrau mit einem Himmel, der durch eine fadenscheinige Stelle das Licht des späten Nachmittags schimmern ließ.
    Lorena schwang ein Bein auf die Brüstung und blickte hinunter. Dort, zwischen den Containern und den kaputten Kinderschaukeln, würde sie aufschlagen. Der Gedanke trieb ihr die Tränen in die Augen. Weinend, ein Bein über der Brüstung, stand sie da. Und niemand, der sie hinderte, zu springen.
    Weynfeldt kam ihr in den Sinn. Wie er hilflos in sicherer Distanz im Zimmer stand, im weißen Pyjama und mit zerzauster Kennedyfrisur. Wie er plötzlich zu weinen begann.
    Beim Abschied hatte er gesagt: »Es gibt immer etwas, wofür es sich lohnt, am Leben zu bleiben.«
    »Garantierst du mir das?«, hatte sie gefragt.
    »Garantiert«, hatte er geantwortet.
    Lorena nahm das Bein von der Brüstung. Vielleicht war es an der Zeit, die Garantie geltend zu machen. Bevor sie ablief.
    Am Tag ihrer Abreise spannte sich groß und blau ein Sommerhimmel über der Insel, als wollte sie den Abreisenden eine Ahnung davon vermitteln, wie sie auch hätte sein können.
    Lorena hatte die restlichen Tage nur noch ein einziges Mal mit Barbara gesprochen. Es war kein versöhnliches Gespräch gewesen. Barbara wollte, dass Lorena mit ihr nach der Landung die Ankunftshalle betrat und vor ihrem Mann die Komödie weiterspielte. Lorena hatte sich geweigert. Sie werde selbst abgeholt, hatte sie behauptet.
    Das stimmte auch. Sie hatte eine Münze geworfen. Kopf bedeutete, sie würde Weynfeldt anrufen und ihn darum bitten, bei Zahl träfe es Pedroni.
    Sie warf dreimal. Immer Zahl.

24
     
    Der Anruf kam spät. Weynfeldt hatte etwas länger gearbeitet. Der Auktionskatalog war versandt, und den ganzen Tag trafen Reaktionen von Sammlern und Kuratoren ein. Für die normale Arbeit fand er fast nur noch abends Zeit.
    Er aß allein in einem neueren Restaurant mit dem albernen Namen Esserei. Der Wirt war ein junger Mann, der den Ehrgeiz besaß, eine neue Küche zu erfinden, die er »La Cuisine Simple« nannte.
    Den Namen »Esserei«, so stand es im Vorwort zur Speisekarte, hatte er vom spanischen »Comedor« abgeleitet. Einem Wort, auf das die deutsche Sprache zu seinem Bedauern bisher verzichten musste.
    In diesem Geist war das Lokal auch eingerichtet. Einfache Küchentische mit Linoleumbelag im Stil der fünfziger Jahre, dazu passende Küchenstühle, weißes Steingutgeschirr und als Wandschmuck grafische Makrofotografien von Salz-und Pfefferkörnern, Knoblauchzehen, Zwiebelringen, Kartoffelschalen, Reiskörnern oder Speckscheiben.
    Aber das Essen war hervorragend. Saubere, einfache Gerichte aus erstklassigen Rohstoffen. Außer Salz und Pfeffer nie mehr als drei Gewürze pro Gericht. Und neben Zwiebeln und Knoblauch nie mehr als fünf Zutaten.
    In die Esserei ging man um zu essen. Die Gäste unterhielten sich mit gedämpfter Stimme, das vorherrschende Geräusch war das vorsichtige Klappern von Besteck und Geschirr. Adrian bezweifelte, dass der Wirt diese strenge Auslegung seines Konzepts noch lange würde durchhalten können. Sie schlug auf die Stimmung und dadurch auch auf die Belegung. Aber wenn er allein war, aß er gerne dort. Man musste sich nicht mit der Bedienung unterhalten, es wurde nicht geraucht, und niemand störte sich daran, wenn man sofort nach dem letzten Bissen die

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