Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
und glaubte zu spüren, wie das dicke poröse Papier die Feuchtigkeit aufsaugte.
Mit Tränen in den Augen hob sie sie an ihr Gesicht und drückte einen Kuss darauf.
IV
Als sie auf der obersten Treppenstufe stand und in den grellen Tag blinzelte, tauchte auf dem Bürgersteig vor ihr plötzlich eine kleine Gestalt auf. Merki.
»Oh«, grinste er dreist, »an dich habe ich gerade gedacht.«
»Was machst du hier?«
Er trug ein braunes Hemd mit passender Krawatte, der obere Hemdknopf war wegen der Hitze geöffnet und der dicke Krawattenknoten hing schief. Er steckte den Finger darunter und lockerte ihn. »Füße vertreten, was sonst? Die Bullen haben dich also freigelassen?«
Sie nickten einander zu.
»Nochmal wegen der Tatwaffe, Merki: Wer ist dein Informant?«
»Ein guter Journalist schützt seine Quellen.«
Sie verschränkte die Arme. »Die Strathclyde Police hat mich gerade verwarnt, weil ich behauptet habe, die IRA sei es gewesen.«
Merki dachte einen Augenblick nach. »Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es die IRA war, oder? Vielleicht machen die sich Sorgen. So eine Story kann Unruhe auslösen.«
Genau das hatte Knox gesagt, wortwörtlich.
»Du bist ein Idiot. Lässt dich benutzen wie ein Idiot. Wenn du kein Idiot wärst, dann hättest du nicht deinen Namen daruntergesetzt.«
Er blaffte drauflos: »Was zum Teufel weißt du schon, Meehan? Du bist Kolumnistin. ›Ich sehe gerne fern‹, das ist die Scheiße, die du schreibst. Du würdest nicht wissen, was eine Nachrichtenmeldung ist, wenn du eine vor der Nase hättest.«
»Es war Knox, stimmt’s?« Aber er sprang nicht auf den Namen an. »Garrett?« Er zuckte zusammen, wich einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf.
»Was hast du heute Morgen getippt, Merki?«
»Ach, das?« Er grinste die leere Straße hinunter. »Das war ein Fanbrief. Für dich. Ich finde dich nämlich wahnsinnig brillant.«
»Und ich finde, dass du unheimlich gut aussiehst«, konterte sie zynisch.
Vor Überraschung und Betroffenheit blieb ihm der Mund offen stehen. Er war ein kleiner schielender Mann, sein Schädel war seltsam geformt, sein Körper stämmig und seine Beinchen klapperdürr. Dafür konnte er aber nichts. Sie war zu weit gegangen. Sie ging immer zu weit. Sie murmelte: »Tut mir leid« und schüttelte den Kopf. »War ein anstrengender Vormittag.«
Er sah sie von der Seite an. »Du bist fett«, sagte er gereizt.
»Stimmt. Ich bin fett, Merki, tut mir leid.«
Immer noch stinksauer nickte er zustimmend, als hätte ihr Eingeständnis für eine Pattsituation gesorgt. »So ein Pech, was?«
Sie hätte ihm erklären können, dass sie nur deshalb dick war, weil sie zu viel aß, während er bereits als hässlicher Gnom auf die Welt gekommen war, aber sie bezweifelte, dass ihr das helfen würde. »Hast du einen Termin bei dem Wunderkind da oben?«, fragte sie.
»War schon da. Hab mir nur noch ein Sandwich geholt, aber mein Wagen steht hier.« Er klopfte auf das Notizbuch in seiner Tasche. »Hab tolle Infos bekommen.«
Sie konkurrierten bei dieser Geschichte. Egal, was er ihr über das Gespräch mit Fitzpatrick erzählen würde, das Gegenteil entspräche der Wahrheit und das wussten beide. Hätte er sich länger vorbereiten können, wäre er noch mal ins Büro gefahren und hätte dort verlauten lassen, dass er dem Anwalt nichts hatte entlocken können, nur um efektvoller zu blufen.
»Gut gemacht«, sagte sie und sie lächelten einander an.
Er drehte sich um und ging auf einen kleinen blauen Nissan mit eingedellter Fahrertür und verkratzter Motorhaube zu. »Hast du das Haus schon gesehen, das er dir vermacht hat?«
»Spinner.«
»Willst du mitkommen?«
Ins Büro konnte sie nicht, Pete war in der Schule und wenn sie sich eine Weile an Merki hängte, bekäme sie vielleicht heraus, was er am Vormittag geschrieben hatte. »Darf ich in deinem Wagen rauchen?«
»Klar.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Na gut.«
23
Das Haus
Die Fahrt dauerte nicht lange, aber sie war schrecklich. An mehreren Straßenbiegungen lagen welke Blumensträuße, die Unfallorte markierten, an denen Menschen gestorben waren. Merki ließ sich Zeit und tuckerte mit sechzig die Straße entlang, nur auf geraden Abschnitten beschleunigte er auf achtzig. Hinter ihm staute sich der Verkehr. Fahrer, die die Strecke kannten, bildeten wütend eine Kolonne hinter ihnen. Sie versuchten, Merki zu zwingen, schneller zu fahren. Er blieb ruhig, beobachtete sie im Spiegel und fuhr so weit wie möglich
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