Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
konzentrierte sich auf die Entfernung, deshalb sah sie ihn zuerst nicht. Er befand sich am Rande ihres Blickfeldes, ein kleiner, verschwommener Kopf, der an einer Bushaltestelle wartete. Der silberne Reißverschluss an seinem schwarzen Trainingsanzug glitzerte wie Wasser in der Sonne und lenkte ihren Blick auf ihn.
Es war der junge Mann, der draußen vor der Schule gestanden hatte, der kinderlose Mann, der vor ihr und Pete die Straße überquert und durch den Zaun hindurch die Kinder beobachtet hatte. Seine Körperhaltung war lässig, aber sein Gesichtsausdruck merkwürdig angespannt und er starrte sie direkt an. Unter dem schwarzen Trainingsanzug sah sie grün und weiß hervorblitzen. Er trug ein Celtic-Trikot.
Entnervt und aufgeregt trat sie aufs Gas, schoss quer über die Straße in eine kleine Seitenstraße hinein, zog die Handbremse und riss die Tür auf, sprang heraus und blickte zurück.
Zwischen ihr und dem jungen Mann befand sich nun ein Bus, aber sie rannte trotzdem über die Straße, sprang hinten um den Bus herum.
Keine fünf Sekunden, nachdem sie ihn gesehen hatte, war sie auch schon an der Ecke, doch der junge Mann war verschwunden.
II
Die Wohnhäuser in Kevins Straße waren fünfstöckig und befanden sich in einer derart aufgewerteten Wohngegend, dass zu jeder Wohnung mindestens auch ein Wagen gehörte. Paddy musste zweimal durch die Straße kurven, um einen Parkplatz zu finden.
Eine der Straßenecken wirkte einen Hauch weniger verkehrswidrig als die anderen, und sie stellte ihr Auto dort illegal ab, die Motorhaube ragte auf die Straße.
Sie würde nicht länger als zehn Minuten brauchen. Kevin war wahrscheinlich sowieso nicht da und, wenn doch, dann würde er ihr nur einige Informationen geben müssen. Sie würde keinen Tee mit ihm trinken, falls er ihr einen anbot. Sie würde sich den Namen sagen lassen, die Polizei anrufen und direkt wieder zu Petes Schule zurückfahren und ihn aus der Klasse holen.
Kevins Treppenaufgang war schöner, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie hatte ihn nur im Dunkeln gesehen und die staubige Vierzig-Watt-Birne hatte den grünen Wandfliesen Unrecht getan. Die Nachbarn hatten Pflanzen vor die Türen gestellt und sie gediehen prächtig in der Südsonne, die durch die großen gitterverstärkten Fenster drang.
Kevins Wohnungstür war verschlossen. Sie klingelte und wartete höflich, bevor sie klopfte. Ihr Klopfen hallte durch den leeren Gang. Er war nicht da. Bedenkt man, wie viel Mühe sich Michael Collins gegeben hatte, ihr einen Schrecken einzujagen, dann war ihm das bei Kevin vielleicht sogar gelungen.
Sie zog einen Notizblock aus der Tasche und kritzelte ihre Nummer mit der Bitte um Rückruf darauf. Sie hatte gerade den Briefschlitz aufgeklappt, als sie Musik hörte.
Sie bückte sich und spähte durch den Schlitz. Sie konnte nichts sehen: Borsten von oben und unten versperrten die Sicht, was einerseits verhinderte, dass Wind in die Wohnung zog und andererseits Neugierige genau das taten, was sie gerade versuchte: in die Wohnung spähen. Sie versuchte die Borsten mit den Fingern auseinanderzuschieben, aber der Briefkasten war zu tief und sie kam nicht heran. Auf jeden Fall war von drinnen Musik zu hören, aus dem Wohnzimmer, glaubte sie.
Sie kniete sich auf die grobe Fußmatte und schob die Borsten mit ihrem Stift und einem ihrer Hausschlüssel auseinander. Sie konnte ein bisschen was sehen, aber nicht viel. Sie hielt ihren Mund an die Öffnung.
»Kevin? Bist du da?«
Vielleicht schlief er im Wohnzimmer, übertönte die Straßen- und Morgengeräusche mit Musik. Sie sah den Teppichläufer auf dem Boden, das Bein eines Stativs, den Stuhl, auf dem er am Sonntagabend ihren Mantel abgelegt hatte.
Auf Knien, wie eine Pilgerin, rutschte sie ein Stück zur Seite und veränderte damit ihren Blickwinkel: Die Wohnzimmertür stand offen, Sonnenlicht sammelte sich auf einem Turnschuh, der auf der Seite lag, die abgetragene Sohle zeigte zu ihr. Von dort kam die Musik, die fröhliche Ouvertüre aus Die Hochzeit des Figaro. Es klang, als liefe das Radio.
Sie wollte sich gerade zurückziehen und noch einmal durch den Schlitz rufen, als sie sah, dass die Fußkappe des Turnschuhs zuckte. In dem Turnschuh steckte ein Fuß.
16
Negative Negative
I
Die Polizei brach die Tür auf und Paddy folgte den Sanitätern in die Wohnung.
Kevin lag leblos auf der linken Seite im Wohnzimmer, seine Wange in einer Pfütze aus getrocknetem, kreideähnlichem Speichel. Hinter ihm flutete
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