Der letzte Winter
Fundort gesagt. »Mehr weiß ich im Augenblick noch nicht.«
Winter hatte genickt. Sie hatte über die Bucht geschaut, das Meer, und ausgesehen, als wollte sie etwas sagen, es dann aber gelassen.
»Er könnte ertrunken sein«, hatte sie hinzugefügt und sich ihm zugewandt.
»Aber das glaubst du nicht?«
»Es spielt keine Rolle, was ich glaube.«
»Sag mir trotzdem, was du glaubst.«
»Er hat Flecken um den Hals«, hatte sie geantwortet. »Er könnte sich in etwas verwickelt haben.«
»Oder jemand anders hat ihn in etwas verwickelt.«
»Wir werden ja sehen.« Sie hatte eine Handbewegung gemacht. »Ein hübscher Ort. Dein eigener Strand.«
»Und dann wird ausgerechnet hier eine Leiche angetrieben.«
»Das kann überall passieren, Erik.«
»Aber doch nicht auf dem Grundstück eines Kriminalkommissars«, hatte Winter geantwortet. »Das ist nicht gerecht. Und ausgerechnet in seiner Freizeit.«
»Verbringst du hier draußen auch Arbeitszeit?«
»Im Augenblick, ja«, hatte er gesagt. Daran dachte er jetzt, während er allein zurückgeblieben war. Seine Arbeitszeit war noch nicht beendet. Der Tote war von einem Leichenwagen abgeholt und zur Gerichtsmedizin auf dem Medicinarberg gebracht worden. Keine richtige Beerdigung. Noch nicht.
Möwen kreisten über Winter. Sie waren still, im Augenblick hatten sie keinen Anlass zum Lachen. Vielleicht gehörte der Strand viel mehr ihnen als ihm. Sie beäugten ihn, flogen auf die Bucht hinaus und kehrten zurück. Vielleicht hielten sie Ausschau nach neuen Leichen. Nein. Eine reichte. Wie lange hatte der Mann im Wasser gelegen? Warum hat ihn niemand anders entdeckt und aufgehalten, bevor er bei uns angetrieben wurde? Winter hob einen flachen Stein auf und warf ihn über das Wasser, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun. Das war ein Rekord, vielleicht ein Weltrekord. Elsa würde es ihm nicht glauben, niemand würde ihm glauben. Jetzt lag der Stein dort draußen auf dem Grund. Dieser Stein hatte zehn Millionen Jahre gebraucht, um ans Ufer zu gelangen, und er hatte ihn innerhalb von nur zehn Sekunden zurückbefördert.
Sein Handy klingelte.
»Ja?«
»Bist du immer noch draußen?«
Bertils ruhige Stimme. Die brauchte er jetzt. Er war erschüttert von dem, was er gerade getan hatte.
»Bin ich«, sagte er.
»Was machst du?«
»Spiele Gott. Zerstöre die ökologische Balance der Erde.«
»Gott kann nicht zerstören, was er erschaffen hat, Erik.«
»Früher ist die Erde ein Paradies gewesen, Bertil.«
»Du stehst gerade mitten in einem Paradies.«
»Erzähl das mal dem Mann, der hier angetrieben wurde.«
»Es haben einige Beerdigungen stattgefunden«, sagte Ringmar.
»Aha.«
»Unter anderem in der Kirche von Askim.«
»Die liegt ziemlich genau gegenüber auf der anderen Seite des Säröleden«, sagte Winter.
»Und in Frölunda«, fuhr Ringmar fort.
»Es ist sinnlos, bevor wir nicht seine Identität kennen«, sagte Winter.
»Nur damit du es weißt.«
Die Möwen verschwanden über dem Askimsfjord, schwarze Striche auf grauem Papier. Der Himmel hatte in den vergangenen Stunden seine Bläue verloren, als hätte er sich den Realitäten in Winters privatem ehemaligen Paradies angepasst. Weit draußen sah er ein Segelboot auf dem Weg zum offenen Meer. Manche kümmerten sich nicht um die Saison und kreuzten fröhlich in die Eisberge. Plötzlich vermisste er ein eigenes Boot. Ein eigener Strand, ein eigenes Boot, das gehörte zusammen. Er könnte sich eins zu seinem fünfzigsten Geburtstag wünschen. Die Hälfte der Zeit hatte er in der Unterwelt verbracht. Dort würde er bleiben. Das wusste er jetzt. Er würde nicht loslassen. Als der jüngste Kriminalkommissar hatte er begonnen, und als der älteste würde er aufhören.
Auf dem Weg nach Hause machte Winter einen Umweg über das Polizeipräsidium. Ein Streifenwagen hatte ihn auf seinen Wunsch abgeholt. Während der Fahrt war er stumm gewesen. Die beiden Polizisten auf dem Vordersitz hatten auch geschwiegen. Das wusste er zu schätzen. Manchmal wurde er von jungen Kollegen gefahren, die ihm ihr ganzes Leben erzählten, als müssten sie über etwas Rechenschaft ablegen. Aber es gab selten einen Grund dafür. Wer noch keine dreißig war, hatte nichts, worüber er Rechenschaft ablegen musste.
Vor dem Polizeipräsidium stieg er aus. Eine Frau nickte ihm zu, als er durch die Tür ging, aber er kannte sie nicht. Vielleicht war sie eine der neuen Staatsanwälte. Die waren auch schrecklich jung. Warum zum
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