Der letzte Winter
Teufel denke ich dauernd so etwas? Weil ich alt werde? Nein, ich bin nicht alt. Ich bin noch immer jung und vielversprechend.
Ringmar stand am Fenster der Kaffeeküche des Fahndungsdezernats und betrachtete den Himmel.
»Der Himmel ist jetzt genauso grau, wie er vorher blau gewesen ist«, sagte er.
»Der Mann wurde aller Wahrscheinlichkeit nach erwürgt«, sagte Winter. »Vielleicht mit bloßen Händen.«
»Hat Pia das gesagt?«
»Ja. Oder sie wird es sagen.«
»Ist das Wunschdenken, Erik?«
»Im Gegenteil, würde ich behaupten.«
»Das ist unsere erste Wasserleiche im Beerdigungsanzug«, sagte Ringmar.
»Vielleicht mochte er weiße Schlipse«, sagte Winter.
»Vielleicht war er auf gar keiner Beerdigung.«
»Wie meinst du das?«
»Es sollte nur den Anschein erwecken. Irgendjemand hat ihn nach dem Mord so gekleidet«, sagte Ringmar.
»Vielleicht hat er sich von seiner eigenen Beerdigung davongestohlen«, sagte Winter.
»Interessant. Alles ist möglich, Erik.«
»Solange wir diese Einstellung haben, gibt es Hoffnung.«
»So habe ich das nicht gemeint. Es war eine Negation.«
»Eine Negation? Heißt das so?«
»Was machst du eigentlich hier, Erik?«
»Das weiß ich auch nicht.«
Aber er wusste es. Er wollte den Namen des Toten wissen, bevor er zu seiner Familie zurückkehrte und seinen Feiertag fortsetzte, falls das überhaupt möglich war, wahrscheinlich nicht. Auch das wusste er. Das Ganze würde sich hinziehen, und das gefiel ihm nicht. Etwas war in sein Leben und in seine Familie eingedrungen, etwas nicht Abgeschlossenes. Zum ersten Mal im Lauf des vergangenen halben Halbjahrhunderts passierte ihm das. Als wäre der Tod in die Wohnung am Vasaplatsen eingebrochen. Diesmal war der Tod ein namenloser Mann. Sie brauchten seinen Namen, um seinen Zahnarzt ausfindig machen zu können. Vielleicht würden seine Fingerabdrücke ihnen helfen, wenn er im Leben kriminell genug gewesen war. Aber in Fällen wie diesem waren die Leute häufig geradezu frustrierend gesetzestreu, und Fingerabdrücke halfen nicht weiter. Winter setzte eher auf eine Vermisstenmeldung von jemandem, eine leidlich soziale Person würde mit der Zeit vermisst werden. Half das nichts, mussten sie eine Pressemitteilung formulieren. Männliche Leiche nordischen Ursprungs …
»Ich fahre nach Hause«, sagte er, verließ die Kaffeeküche, ging zum Lift und drückte auf den Knopf. Als der Fahrstuhl kam, stieg er ein. Drinnen stand Sverker Edlund, der auf dem Weg nach unten war.
»Sverker.«
»Erik.«
»Wie geht’s?«
»Muss ja. Hab von der Wasserleiche gehört.«
»Ja, Scheiße, auf meinem eigenen Grundstück.«
»Der richtige Mann am richtigen Ort«, sagte Edlund.
»Das verstehe ich nicht, Sverker.«
»Ich auch nicht, wenn ich ehrlich sein soll.«
Edlund lächelte andeutungsweise.
»Hab von deinem Opfer gehört«, sagte Winter.
»Hm.«
Sie waren unten und verließen den Lift. Der Korridor war leer. Die neue Lobby war leer. Jeder, der konnte, hatte sich freigenommen. Alle wollten die Ankunft des Winters feiern. Es war schon so lange her, seit er zuletzt hier gewesen war, die Leute hatten sich drei lange Sommermonate nach ihm gesehnt.
»Ich verhöre den jungen Mann«, sagte Edlund. »Den Lebensgefährten. Er hat ihr ein Kissen auf das Gesicht gelegt.«
»War er es?«
Edlund zuckte mit den Schultern.
»Er wird gestehen, bevor der Tag zu Ende ist.«
»Das wäre das Beste für alle«, sagte Winter.
»Ja, nicht wahr?«
»Bertil hat was von Vasastan gesagt. Hoffentlich war es nicht am Vasaplatsen.«
»In der Chalmersgatan.«
»Da hatten wir mal ein Polizeirevier.«
»Ja. Wenn es das noch gäbe, wäre es vielleicht nicht passiert.«
»Nein, allein das Wissen vom Vorhandensein des Reviers hat die Leute davon abgehalten, sich unanständig zu benehmen«, sagte Winter. »Es genügte, dass sie das Schild sahen.«
Sie standen vor dem Präsidium. Jedes Mal, wenn er davor stand, dachte Winter, wie verdammt hässlich das Gebäude war.
»Ich brauche ein bisschen frische Luft«, sagte Edlund. »Wenn man eine Weile da drinnen gesessen hat, kriegt man Atemnot.«
»Ja.«
»Stell dir diesen jungen Mann vor. Gut ausgebildet, scheint vermögende Eltern zu haben, feine Patrizierwohnung mitten in der Stadt. Genauso erfolgreiche Lebensgefährtin, der gleiche Hintergrund. Trotzdem geht alles zum Teufel.«
»Bist du erstaunt?«
»Nein, es ist nur so verdammt sinnlos.«
»Was ist sinnlos?«
»Dass es so enden musste. Ich weiß nicht. Mir
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