Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der letzte Winter

Titel: Der letzte Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Åke Edwardson
Vom Netzwerk:
wurde plötzlich traurig. Sie waren im selben Alter. Er durchlebte eine Lebenskrise. Winter sah es ihm an. Dort hatte sich Winter kürzlich auch befunden, im Land der Krise. Er nickte mit dem Kopf zur Leiche.
    »Hat er Papiere bei sich?«
    Rahm tastete die Innentaschen des Sakkos ab. Dann die Hosentaschen.
    »Nein«, antwortete er eine Minute später. »Nicht, soweit ich im Augenblick feststellen kann.«
    Winter betrachtete wieder das Gesicht. Der Mann war um die vierzig. Womöglich etwas jünger, schwer zu sagen. Die Haare waren dunkel vom Wasser, vielleicht waren sie blond. Sie lagen um seinen Kopf wie eine Badekappe. Der Mann schien mittelgroß zu sein oder etwas größer. Die Stirn war breit, der Abstand zwischen den Augen relativ weit, regelmäßige Züge, was immer das bedeutete. Eine sonderbare Beschreibung. Was sind unregelmäßige Züge? Die Nase an der Stirn und der Mund unter dem Kinn? Picasso? Dalí? Chagall? Oder gar Pollock? Nein, Pollock war eher der shoot-out in dem Klüngel.
    Sein Handy klingelte.
    »Wie geht’s?«
    Ringmars Stimme klang ruhig, so ruhig wie das Meer in der Bucht. Winter mochte die Stimme. Auch Bertil hatte im vergangenen Jahr eine Art Krise durchgemacht, vielleicht schon in den vorhergehenden Jahren, eine ziemlich verspätete Midlifecrisis, aber jetzt hatte er sich mit seinem Schicksal abgefunden.
    »Wir haben ihn noch nicht identifiziert«, sagte Winter.
    »Gar nichts?«
    »Bis jetzt nicht.«
    »Hat er noch eigene Zähne?«
    »Er hat noch alles, Bertil. Ist möglicherweise erwürgt worden. Dafür gibt es jedenfalls Anzeichen.«
    Rahm blickte auf und nickte.
    »Pia ist unterwegs«, sagte Ringmar. »Sie hat heute ziemlich viel zu tun.«
    »Ach?«
    »Das Fahndungsdezernat hatte heute Nacht einen Totschlag, oder Mord. Ein junger Mann, der anscheinend seine Lebensgefährtin erstickt hat. Offenbar in Vasastan.«
    »Say no more« , sagte Winter. »Es reicht, dass eine Leiche an meinem Strand angetrieben wurde.«
    »Es ist nicht unser Fall, Erik.«
    »Dieser aber schon.« Winter betrachtete wieder das Gesicht des Toten. Noch war es das Gesicht eines Unbekannten. Vielleicht war er ein Graf oder ein Penner. Sein Anzug sagte nichts darüber aus. Jeder konnte einen Anzug auftragen, besonders wenn man anspruchslos war. Winter war überzeugt, dass er bald wissen würde, um wen es sich bei dem Toten handelte, und dann würde er das ehemalige Leben des Mannes betreten, wie ein Archivar oder Archäologe. Er war der Archäologe des Todes. Im Augenblick gab es nur ein Gesicht, einen Körper und einen durchnässten Anzug, aber alles würde durch Bilder ersetzt werden, tausend Bilder, zehntausend, einige lebendig, ein Stück Leben, das gerade eben zu Ende gegangen war. Winter sah wieder über das Meer. Warum hier? Warum dort? Dort draußen? Schaute wieder auf den Toten. Die weiße Krawatte wirkte fast wie ein Witz, als ob alles nur ein Witz wäre. Als würde der Mann im nächsten Augenblick aufstehen und breit grinsen. Warum nicht.
    »Bis jetzt wurden uns noch keine Beerdigungen aus dem Umland von Göteborg gemeldet«, sagte Ringmar.
    »Ich habe genug von Beerdigungen«, sagte Winter.
    »Wer hat das nicht, Erik.«
    »Wir werden ihnen nie entkommen.«
    »Beerdigungen gehören nun einmal zum Leben, denen entkommt man garantiert nie«, sagte Ringmar.
    Håkan Wendelberg wandte Winter sein trauriges Gesicht zu. Er wusste genau, wovon sie sprachen. Ein Melancholiker, vielleicht auch klinisch depressiv. Wo verlief die Grenze, vielleicht gab es gar keine? Wahrscheinlich war es nicht besonders gesund, sich täglich mit dem Tod zu beschäftigen, wenn man zu sehr über seinen Sinn nachgrübelte. Aber es war schwer, es zu lassen. In dieser Branche dachte man nicht über den Sinn des Lebens, sondern über den Sinn des Todes nach.

4
    D ie Spurensicherung war gekommen und gegangen, ebenso die Gerichtsmedizinerin Pia Fröberg. Einmal vor langer Zeit, in einer anderen Inkarnation, waren sie Hand in Hand einen Strand, gar nicht weit von hier entfernt, entlanggewandert. Aber das war jetzt lange her, etwa so, wie im neunzehnten Jahrhundert mit einem Schiff westwärts über den Atlantik zu segeln. Sie waren nicht mehr dieselben, kaum wiederzuerkennen, dachte er, wohl wissend, dass es so nicht stimmte. Sie hatten sich nicht verändert. Nur die Welt hatte sich verändert. Das war ein guter Gedanke, den man festhalten sollte. Der gab einem fast ewiges Leben.
    »Im Lauf der vergangenen vierundzwanzig Stunden«, hatte sie am

Weitere Kostenlose Bücher