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Der letzte Winter

Titel: Der letzte Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Åke Edwardson
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. Er versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Es war Nacht, früher Morgen. Er sah die Konturen von zwei Körpern im Bett. Nichts rührte sich. Dann eine Bewegung. Eine weitere Person befand sich im Zimmer, eine Gestalt. Sie bewegte sich auf das breite Bett zu und machte sich dort zu schaffen. Winter konnte nicht genau erkennen, was sie tat. Mit geschlossenen Augen stand er reglos da. Sonst würde er nichts sehen können. Jetzt sah er, dass die Person ein Kissen anhob. Es war eine ruhige, friedliche Bewegung.
    Er stand vor dem Tatorthaus in der Götabergsgatan. Diesmal war er nicht allein. Neben ihm stand Gerda Hoffner. Sie war überrascht gewesen, als er anrief. Er war selber überrascht. Aber vielleicht hatte etwas in der anderen Wohnung den Anstoß gegeben, vielleicht die Gestalt. Vier geschlossene Augen sahen mehr als zwei. Sie stiegen die Treppen hinauf. Er spürte, wie angespannt Gerda Hoffner war, und ihm fiel auf, wie jung sie war. Alle Jüngeren sahen inzwischen aus, als wären sie viel jünger als er. Sie konnten ebenso gut achtzehn wie dreißig sein. Das war er selber auch einmal gewesen, und er hatte genauso frisch ausgesehen wie sie. Er sehnte sich nicht zurück nach der Zeit. In dem Alter gab es so viel Verwirrendes. So viel, was man nicht verstand, und schon gar nicht in diesem verdammten Job. Man verlor so viel Zeit, wenn man darüber nachdenken musste, was man gerade erlebt hatte, um es dann zu verstehen. Schließlich hatte er begriffen, dass es nicht zu verstehen war. Das war eine erschreckende Einsicht, die ihn fast bewogen hatte, den Polizeiberuf aufzugeben. Doch dann war er Fahnder geworden. Ihm war bewusst gewesen, dass es so einfach nicht war. Manchmal verstand man, und das war unter Umständen eine noch schrecklichere Einsicht. Am besten, man versuchte es gar nicht erst. Die junge Frau, die neben ihm herging mit ihren blassen Gesichtszügen, die von dem unheimlichen Licht angeleuchtet wurden, hatte unablässig an ihre Erlebnisse gedacht und sich schließlich an ihn gewandt. Sie hatte nichts verstanden, und bis jetzt hatte auch er noch nichts verstanden. Er wusste nicht, warum er die Treppen hinaufstieg. Er konnte behaupten, dass er es verstehen wollte. Er spürte den kalten Luftzug im Treppenhaus wie einen plötzlichen Vorboten. Den Vorboten von etwas Entsetzlichem. Manchmal spürte er ihn, wirklich oder eingebildet, und er spürte ihn jetzt. Entsetzliches war geschehen, und es würde mehr Entsetzliches geschehen. Vergangenheit und Zukunft. Was gab es in der Gegenwart? Halt dich fest, Winter. Dies wird eine furchtbare Geschichte.
    »Das Sterbehaus?«, hatte sie gesagt, als sie draußen auf dem Gehweg vor dem Haus gestanden hatten. »Nennen Sie das so?«
    »Einer meiner Kollegen«, hatte Winter geantwortet. »Ich weiß nicht, warum ich ihn zitiert habe.«
    »Nennt man das Galgenhumor?«
    »Vermutlich. Aber richtiger Galgenhumor ist es, einen Witz zu machen, während der Henker einem die Schlinge um den Hals legt.«
    »Das ist nicht meine Art Humor«, sagte sie. »Galgenhumor.«
    »Normalerweise ist er nicht so witzig«, sagte Winter. »Es ist wohl ein Versuch … na ja, mit seinen Erlebnissen in diesem Job fertig zu werden. Den Druck zu lindern oder wie man das nennen soll.«
    Sie nickte.
    »Verstehen Sie, was ich meine?«
    »Ich glaube schon. Manche reißen Witze. Andere verstummen. Einige gehen in die Kneipe.«
    »Und was machen Sie?«, fragte er.
    »Ich rufe Sie an.« Gerda Hoffner lächelte. »Ich habe noch nicht viel erlebt. Dies war bisher das Schlimmste.«
    Jetzt standen sie vor der Wohnungstür. Das Deckenlicht erlosch. Durch ein kleines Fenster am Treppenabsatz fielen ein paar Sonnenstrahlen. Sie liefen parallel an der Wand entlang und glitten quer über die Tür, vor der sie standen. Nein, die Strahlen drangen direkt durch die Tür in die Wohnung. Es sah aus wie eine Art Zeichen. Eine Vorahnung. Es war seltsam.
    »Stand die Tür offen, als Sie kamen?«, fragte Winter.
    »Ja, er hatte sie wohl geöffnet.«
    »Erik Lentner?«
    »Ja … der Mann da drinnen.«
    »Sie sind nicht ganz sicher?«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Dass die Tür offen war, als Sie kamen.«
    »Nein … mein Kollege hat gehört, dass Lentner es gesagt hat. Aber ich habe es nicht gehört.«
    »Warum nicht?«
    »Ich weiß es nicht. Kommt mir auch komisch vor. Ich hätte es hören müssen. Aber ich habe die Frau angeschaut. Die tote Frau. Wahrscheinlich wollte ich herausfinden, ob sie wirklich tot war. Ich weiß es

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