Der Leuchtturm von Alexandria
können. Das wäre das Ende der Menschheit.«
»Ich glaube, als Eunuch warst du mir lieber«, meinte Edico, und wir lachten alle beide.
16
Das ganze Frühjahr hindurch arbeitete ich hart und kümmerte mich um die Kranken von Carragines. Die meisten Verwundeten überließ ich Edico. Dies geschah zum Teil deswegen, weil er jetzt der ranghöhere Arzt war und aus diesem Grunde die angeseheneren Patienten übernahm, teils weil man es für schicklicher hielt, wenn eine Frau Frauen und Kinder als Patienten hatte, teils aber auch, weil ich die Verwundeten nicht pflegen wollte. Mir behagte der Gedanke gar nicht, Männer gesund zu machen, die, sobald es ihnen besser ging, losziehen und Soldaten meines eigenen Volkes töten würden. Frauen, Kinder, Sklaven, die Alten und die Schwachen – ich hatte nichts dagegen, diesen Menschen zu helfen, selbst wenn sie zum Feind gehörten. Ich hatte mich inzwischen mit meiner neuen Stellung abgefunden und dachte nicht mehr an Flucht. Nach den ersten paar Wochen verschwanden mein Umhang und meine Schuhe auch nicht mehr jede Nacht, und ich hätte aus dem Lager schlüpfen können – nur, wohin hätte ich mich wenden sollen? Salices war nicht weit, aber durch die römischen Sklaven, die den Goten entkamen, und die gotischen Sklaven, die den Römern entkamen, verbreiteten sich Neuigkeiten in Thrazien schnell. Wahrscheinlich wußten inzwischen sämtliche Soldaten Skythiens, daß Chariton von Ephesus in Wirklichkeit eine Frau war, so daß mich unter den Römern nichts als Schande erwartete. Vielleicht wußten sie sogar noch mehr: nämlich daß Chariton von Ephesus in Wirklichkeit Charis war, die Tochter des Theodoros, etwas, was ich den Goten noch nicht erzählt hatte. Es hing davon ab, was Athanaric entdeckt und wem er es erzählt hatte. Ich hoffte, daß er entweder nichts entdeckt oder aber nichts ausgeplaudert hatte, denn ich wollte nicht, daß Frithigern erfuhr, daß der Statthalter von Skythien mein Bruder war. Es war schlimm genug, eine Gefangene zu sein; ich wollte nicht auch noch eine Geisel sein. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, daß der König mir etwas antun würde, aber er könnte Thorion zumindest damit drohen, und daraus würde nur Ärger entstehen.
Mit Amalberga und den Edelfrauen aus ihrem Gefolge sowie mit den Pflegern im Hospital und einigen der Patienten kam ich gut zurecht – obwohl es zu viele gab, um einen von ihnen wirklich gut kennenzulernen. Ich mußte die ganze Zeit über gotisch sprechen und kam inzwischen schon besser damit zurecht; nach etwa einem Monat unterhielt ich mich sogar mit Amalberga und Edico auf gotisch. Ich vermißte meine Freunde und dachte an sie, wenn ich einmal Zeit hatte. Ich hatte jedoch keinerlei Möglichkeit, mit ihnen in Verbindung zu treten, und war so beschäftigt, daß mir die Welt außerhalb von Carragines allmählich unwirklich erschien. Ich hörte einige Neuigkeiten über Sebastianus: Die Goten sprachen viel davon, was die römischen Befehlshaber taten. Obwohl keiner von ihnen viel mehr tun konnte, als auf Verstärkung zu warten.
Ich dachte oft an Athanaric und fragte mich, was er entdeckt haben mochte und wo er jetzt wohl war. Ich konnte es nicht ändern: Ich verspürte den Wunsch, ihn zu sehen, jetzt, da man mich als Frau entlarvt hatte. Obwohl ich Angst hatte, er werde mich ganz einfach lächerlich finden, oder schlimmer noch, er werde mich als irgendeine x-beliebige Edelfrau behandeln, wollte ich ihn doch gerne sehen und ihm sagen: »Sieh her, so bin ich, und vielleicht hast du es vermutet. Magst du mich so?« Aber ich hörte nichts von ihm. Amalberga und Frithigern waren ebenfalls sehr begierig, ihn zu sehen, und wollten unbedingt wissen, wo er sich aufhielt. Die erste Wut des Plünderns und Rachenehmens war allmählich verraucht, und die Goten wollten mit dem Kaiserreich einen Waffenstillstand aushandeln. Sie hofften, Athanaric werde auftauchen und mit ihnen darüber sprechen. Doch es hatte den Anschein, als sei das Kaiserreich dazu entschlossen, nicht mit den Goten zu verhandeln, bis es genug Streitkräfte zusammengezogen hatte, um sie zu zerschmettern. So warteten auch wir in Carragines auf Verstärkung, und im Grunde genommen war ich viel zu beschäftigt, um mir über mich selbst oder darüber, wie dies alles enden sollte, Gedanken zu machen.
Dann, eines schönen Maimorgens, als ich ein paar neue Patienten außerhalb des Hospitals besuchte, kam Edico und sagte, er müsse mich sprechen. Da eine Menge Leute darauf
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