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Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht

Titel: Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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hervorrief. Er sah zu, wie Rivers seinen Regenmantel zuknöpfte, und wartete, daß er so etwas wie Trauer über den Verlust des Kindes äußerte, das offenbar keiner hatte haben wollen. Schließlich kamen die Worte, und in einer eigenartigen Form.
    »Es war’n bißchen ein Schock zu hören, daß sie tot ist«, sagte Rivers munter, »aber für mich war sie in gewisser Weise sowieso schon seit ein paar Jahren tot. Schätze, ich hätte sie nie mehr wiedergesehen.« Er ging zur Tür, nicht im geringsten beeinträchtigt durch Wexfords Grimasse. »Eine Zeitung hat mir zweitausend für meinen Exklusivbericht geboten.«
    »Oh, ich würde es machen«, sagte Wexford mit eiskalter Stimme. »Das wird Ihren tragischen Verlust etwas mildern.«
    Er trat ans Fenster. Es regnete noch immer. Die Kinder, die zum Mittagessen nach Hause gingen, trotteten durch die Queen Street, wo die Grundschule war. Sonst machten sie bei Regen ihren Weg, so gut sie konnten, allein. Heute, am ersten Tag nach den Ferien, war keines von ihnen ohne Begleitung, keines ohne einen schützenden Schirm, was Wexford eine tiefere Bedeutung zu haben schien als nur die, kleine Köpfe vor dem Nieselregen zu bewahren.
     
    Burdens Nachmittag war mit Routinenachforschungen ausgefüllt. Es war erst kurz nach sechs, als er nach Hause kam. Beinah zum erstenmal seit Jeans Tod hatte er es eilig, nach Hause zu kommen und bei seinen Kindern zu sein. Besonders bei seiner Tochter. Den ganzen Tag über hatte er an sie gedacht, ihr Bild hatte das von Gemma verdrängt, und je mehr er sich mit den Umständen von Stellas Tod vertraut machte, desto intensiver sah er Pat vor sich, allein, verängstigt und grausam überwältigt und - tot.
    Sie war es, die herbeigerannt kam, um ihn einzulassen, beinah noch bevor er den Schlüssel ins Schloß gesteckt hatte. Und Burden, der meinte, in ihren Augen eine besondere Art von Alarm zu sehen, bückte sich schnell und nahm sie in die Arme. Hätte er es nur gewußt: Pat hatte sich mit ihrer Tante und natürlichen Verbündeten überworfen und wandte sich um Unterstützung an den einzigen anderen Erwachsenen in Reichweite.
    »Was ist los, mein Schätzchen?« Er sah im Geiste einen Wagen anhalten, eine Hand winken, eine Gestalt in die feuchte Dämmerung treten. “Erzähl mir, was passiert ist.«
    »Du mußt Tante Grace sagen, daß sie mich nicht von der Schule abholen darf. Ich bin in der Oberschule, ich bin kein Baby mehr. Das war demütigend.«
    »Ach, ist das alles?« Mit der Erleichterung kam Dankbarkeit auf. Er lachte auf Pats rebellisch vorgestreckte Unterlippe herunter, zog an ihrem Pferdeschwanz und ging in die Küche, um Grace für ihre Umsicht zu danken. Welch ein Dummkopf war er doch gewesen, sich zu sorgen, wo er solch einen Behüter hatte!
    Trotzdem hatte er heute abend das Bedürfnis, nah bei seiner Tochter zu sein. Während des ganzen Essens und hinterher, als er John bei seiner Geometrieaufgabe half - Satz des Pythagoras, wobei ‘Old Minty’ darauf bestand, daß die dritte Klasse es bis zum nächsten Tag konnte - waren seine Gedanken und seine Blicke immer wieder bei Pat. Er hatte in seiner Pflicht ihr gegenüber versagt, durch sein Schweigen in selbstsüchtigem Kummer hatte er es versäumt, über sie zu wachen, sich für ihre Aktivitäten zu interessieren, wie er es eigentlich hätte tun sollen. Angenommen, sie wurde ihm weggenommen, wie es mit ihrer Altersgenossin Stella Rivers passiert war?
    »In einem rechtwinkligen Dreieck«, sagte er mechanisch, »ist die Summe der Quadrate über den Katheten gleich dem Hypothenusenquadrat.«
    Grace hatte nicht versagt. Er beobachtete sie verstohlen, während John seine Zeichnung machte. Sie saß in einer dunklen Ecke des Raumes, und eine Tischlampe warf einen kleinen Lichtkreis auf den Brief, den sie gerade schrieb. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß sie Tausende von Malen in eben dieser Haltung im Schein der Schreibtischlampe in einer stillen Station im Krankenhaus gesessen haben mußte, um den Nachtbericht zu schreiben, dabei ständig gewahr, daß die Menschen um sie herum von ihr abhängig waren, losgelöst von ihnen und gleichzeitig mit ihnen verbunden. Sie schrieb - wie sie genaugenommen alles tat - mit wunderbar sparsamen Bewegungen, denen Manieriertheit oder Hektik völlig fremd waren. Ihre Ausbildung hatte sie diese Effizienz, diese beinah ehrfurchteinflößende Zuverlässigkeit gelehrt. All das hatte jedoch ihre feine Weiblichkeit nicht verdorben, sondern unterstrich sie eher

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