Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
hakte der Arzt nach: »Es ist mir ein Rätsel, weshalb du darauf herumreitest, daß er einen so kränklichen Eindruck macht. Er verlangt sich zuviel ab, das ist alles. Und so krank oder so alt sieht er gar nicht aus.«
»Heute schon«, sagte Wexford.
»Das liegt am Schock«, erklärte der Arzt. »Was erwartest du denn, wenn ein Mann erfährt, daß seine Schwester ermordet wurde?«
»Genau das, bloß hat er sie offenbar auf den Tod nicht ausstehen können. Du hättest hören sollen, was für hochherzig brüderliche Dinge er über sie zu sagen hatte. Ein üblerer Kunde als dieser Mr. Villiers ist mir schon lange nicht mehr über den Weg gelaufen. Auf geht’s, Mike, wir besuchen jetzt einige Damen, die unter dem Eindruck Ihres aufreizenden und - wenn ich so sagen darf - jungenhaften Charmes auftauen und uns ihr Herz ausschütten werden.«
Gemeinsam fuhren sie mit dem Aufzug nach unten, wo sich der Arzt auf der Treppe des Reviers von ihnen verabschiedete. Der Wind hatte sich inzwischen völlig gelegt, doch auf der High Street lagen immer noch die Überbleibsel verstreut, die der Sturm hinter sich zurückgelassen hatte: abgeknickte Zweige, ein winziges leeres Buchfinkennest, das aus einer hohen Baumkrone geweht worden war, und da und dort ein Ziegel von einem alten Dach.
Mit Bryant hinterm Steuer verließen sie die Stadt auf der Straße nach Pomfret, auf der sie kurz danach links nach Myfleet abbogen. Der Weg führte sie an der Kingsmarkhamer Jungenschule vorbei, einer Grammar School, die offiziell unter dem Namen »King-Edwardthe-Sixth-Stiftung für die Söhne von Freisassen, Bürgern und besseren Leuten« firmierte. Gegenwärtig waren die Söhne über die Sommerferien zu Hause, und das im Tudorstil erbaute Gebäude aus braunem Ziegelstein bot ein verlasseneres und ordentlicheres Bild als während der Schulzeit. Da die Zahl der Freisassen und Bürger - wenn vielleicht auch nicht die der besseren Leute - in letzter Zeit besorgniserregend angewachsen war, hatte man vor fünf Jahren hinten an der linken Seite der alten Schule einen großen neuen Flügel hinzugebaut, der von Reaktionären damals als Monstrosität bezeichnet worden war.
Die Schule strahlte eine gewisse Würde und Erhabenheit aus, die vielen Großbauten aus dieser Zeit eigen ist, und voller Verachtung für die pädagogischen und standortbedingten Vorzüge der Gesamtschule in Stowerton setzten die meisten Eltern aus Kingsmarkham ihren Ehrgeiz darein, ihre Sprößlinge dort unterzubringen. Was waren auch schon ein hochmoderner naturwissenschaftlicher Labortrakt, eine zum Trampolinspringen geeignete Sporthalle oder ein Schwimmbecken von olympischen Abmessungen im Vergleich mit der Gelegenheit, vor ihren Bekannten mit historischen Portalen und ausgetretenen Steinstufen prahlen zu können, die schon die Füße des Sohnes von Heinrich dem Achten (wenngleich nur ein einziges Mal) abgewetzt hatten? Überdies ließ sich, falls der Sohn ins ⊃King’s⊂ ging, wie man die Schule allgemein nannte, gegenüber Uneingeweihten überzeugend vorheucheln, er besuche eine Privatschule, und somit verbergen, daß in Wahrheit der Staat für die Ausbildung aufkam.
Burden, dessen Sohn vor einem Jahr dort aufgenommen worden war, nachdem er eine mehrteilige und schwierige Aufnahmeprüfung bestanden hatte, sagte nun:
»Dort unterrichtet Villiers.«
»Seine Fächer sind Latein und Griechisch, nicht?« Burden nickte. »Er hat John in Latein. Griechisch unterrichtet er wohl bei den Älteren. John sagt, daß er oft noch nach Schulschluß in der Bibliothek arbeitet. Die Bibliothek ist da hinten im Anbau untergebracht.«
“Recherchen für seine Bücher?«
»Die Bibliothek ist jedenfalls phantastisch. Ich kenne mich in diesen Dingen zwar nicht sonderlich aus, aber am Tag der offenen Tür habe ich sie mir mal angesehen und war schwer beeindruckt.«
»Kann ihn John leiden?«
»Sie wissen ja, wie Jungs so sind, Sir«, antwortete Burden. »Die Rowdies in Johns Klasse nennen ihn den ⊃alten Ablabs⊂. Einer, der tüchtig durchgreift, würde ich meinen.« Und der Vater, der am Morgen noch seinen Sohn mittels einer unverdienten Gabe von fünfzig Pence besänftigt hatte, fügte im Brustton der Überzeugung hinzu: »Wenn Sie mich fragen, muß man schon strenge Saiten aufziehen, damit diese Bengel nicht einfach Schlitten mit einem fahren.«
Innerlich grinsend, wechselte Wexford das Thema. »Es gibt drei zentrale Fragen, auf die ich gern eine Antwort hätte: Warum hat Quentin
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