Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
Mike, Sie haben aber auch gar keine Ahnung vom Leben. Wenn er ein Verhältnis mit ihr gehabt hat, dann gerade weil er zwanzig und sie vierzig war. Das ist wie...« Er hielt kurz inne und führte den Satz dann mit scheinbarer Gleichgültigkeit zu Ende. »... wie bei Männern mittleren Alters und jungen Mädchen. Das kommt immer wieder vor. Waren Sie nie in eine Freundin Ihrer Mutter verschossen?«
»Aber nein!« rief Burden empört. »Die Freundinnen meiner Mutter waren wie Tanten für mich. Ich redete sie auch mit Tante an. Sogar heute noch, was das betrifft. Was ist daran so komisch?«
»Sie«, sagte Wexford, »und wenn ich nicht lachen müßte, würde ich glatt den Verstand verlieren.«
Burden war an derlei Sprüche gewöhnt, fühlte sich aber dennoch tief beleidigt. Er hielt es für unanständig, ein betrübliches Zeichen der Zeit, daß man sich über jemanden lustig machte, weil er noch strenge Grundsätze und eine schickliche Lebensauffassung vertrat. Er hüstelte leise und trocken, dann sagte er:
»Ich werde mir noch mal Ihren Lieblingsverdächtigen vorknöpfen, den jungen Lovell.«
»Tun Sie das.« Wexford warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Um vier habe ich eine Verabredung.« Er grinste. »Eine Verabredung mit jemandem, der noch ein bißchen mehr Licht in die Vergangenheit gewisser Leute bringen wird.«
Wexford parkte hundert Meter vor den Schultoren in gehörigem Abstand zu den Autos der Eltern, die ihre Sprößlinge abholen wollten. Kricketspieler in mit Grasflecken verschmutztem Weiß trabten in Zweierreihen vom Spielfeld, als die Uhr im Schulturm vier schlug. Wenn die Schüler des King’s vielleicht auch sonst nicht pünktlich waren, beim Verlassen der Schule konnte man die Uhr nach ihnen stellen. Der letzte Glockenschlag war noch nicht verklungen, als sich ein Strom von lachenden und sich herumschubsenden Schülern durch die Tore wälzte; an die Regeln der Verkehrserziehung, die ihnen, wie Wexford gedacht hatte, durch die Beamten vom Verkehrsdezernat gründlich eingebleut wurden, schien keiner der Jungen einen Gedanken zu verschwenden. Nur die hochnäsigen Schüler der Abschlußklassen gingen gelassenen Schrittes und zündeten sich Zigaretten an, sobald sie in den Schatten der ausladenden Bäume gelangten.
Denys Villiers fuhr in seinem dunkelblauen Anglia aus dem Schulhof. Er betätigte mehrmals die Hupe, um Jungen von der Straße zu vertreiben, streckte den Kopf aus dem Fenster und rief etwas, das Wexford nicht hören konnte. Sein Ton verriet alles. Hätte der Mann eine Peitsche gehabt, hätte er sicherlich Gebrauch von ihr gemachte, dachte Wexford. Er wandte den Kopf und sah Marriott durch das Haupttor schlendern. Als der kleine Mann an Wexfords Auto vorbeigegangen war, kurbelte der Chief Inspector das Fenster herunter und zischelte:
»‘Ein Teufelsgeist verfolgt Euch, dicht auf den Fersen stets!’«
Marriott zuckte zusammen, gab sich einen Ruck und lächelte.
»Ein äußerst überschätztes Gedicht - zumindest meiner Meinung nach«, sagte er.
»Allerdings. Aber ich bin nicht gekommen, um mit dir über Gedichte zu sprechen. Hast du mich sitzenlassen wollen?«
Marriott ging um die Motorhaube herum und stieg in den Wagen.
»Offen gestanden ja. Ich habe mir gedacht, du würdest mir eine Standpauke halten, weil ich heute vormittag ins Herrenhaus gegangen bin. Sei so lieb und fang also jetzt nicht damit an. Ich habe einen mehr als aufreibenden Nachmittag hinter mir, weil ich Das verlorene Paradies in der Untertertia einführen mußte, mehr halte ich jetzt einfach nicht aus.«
»‘Der Geist’«, zitierte Wexford, »‘ist selbst sein eigner Ort und macht aus Himmel Hölle sich, aus Hölle Himmel.’«
»Ja, alles schön und gut. Aber ich bin anders. Mein Geist macht sich eine Hölle aus der Hölle. Drück mal auf die Tube, Schätzelchen, damit wir möglichst schnell ein großes Glas in Händen halten. Ich nehme an, du willst unterwegs den nächsten Teil meiner ergötzlichen Erzählung hören.«
»Ich kann’s kaum erwarten«, sagte Wexford, ließ das Auto an und fädelte sich in den Verkehr ein.
»Wo war ich stehengeblieben?«
»Bei Villiers’ erster Frau.«
»June«, sagte Marriott. »Sie konnte mich nicht leiden. Meine Güte, nein, wirklich nicht. Sie meinte, ich könnte mich nützlicher machen, wenn ich in einem Jugendgefängnis unterrichtete. Weißt du, was sie zu Quentin gesagt hat, als sie zum erstenmal das Herrenhaus besuchte? ‘Ich halte es für einen Skandal’,
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