Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
schwesterliche Solidarität. Burden folgte ihnen mit dem bedächtigen steifen Schritt eines Trauernden bei einem Begräbnis.
Villiers schaute auf Wexford, und der Chief Inspector erwiderte seinen Blick. »Sie kann Ihnen nicht viel erzählen«, sagte Villiers. »Ich bin der einzige lebende Mensch, der alles darüber weiß.«
»Ja, Mr. Villiers, wir werden eine Aussage von Ihnen aufnehmen müssen.«
»Ich habe bereits etwas Schriftliches vorbereitet. Andere reden darüber oder fressen es in sich hinein, doch Schriftsteller schreiben. Das hier habe ich heute nacht geschrieben. Ich konnte nicht einschlafen. Ich habe überhaupt nicht geschlafen.«
Tatsächlich wartete der Umschlag auf dem Garderobentisch an eine Vase gelehnt. Als er ihn in die Hand nahm, sah Wexford, daß er an ihn adressiert und frankiert war.
»Wenn Sie nicht heute morgen gekommen wären, hätte ich ihn mit der Post geschickt. Ich hätte das Warten nicht länger ertragen. Jetzt, wo Sie ihn haben, werde ich vielleicht schlafen können.«
»Also gehen wir?« fragte Wexford.
Burden saß am Steuer, neben ihm Villiers. Niemand sprach. Als sie nach Kingsmarkham kamen, schlitzte Wexford den Umschlag auf und warf einen kurzen Blick auf die erste, mit der Maschine geschriebene Seite. Dann bog der Wagen im Vorhof des Polizeireviers ein.
Er stieg aus und öffnete die vordere Beifahrertür. Doch Villiers rührte sich nicht. Als er ihm die Hand auf die Schulter legte, um ihn auf ihre Ankunft aufmerksam zu machen, bemerkte Wexford mit plötzlich aufwallendem Mitleid - zum erstenmal verspürte er diese Regung gegenüber Villiers -, daß der Mann eingeschlafen war.
Zu Händen von Chief Inspector Wexford
Da ich nicht davon ausgehen kann, daß ich zu Ihren Lieblingsautoren zähle, werde ich diese Erklärung so kurz wie möglich halten. Ich schreibe sie nachts, während meine Frau schläft. Ja, sie kann schlafen, den Schlaf der gerechten, unschuldigen Rächerin.
Als Sie Byron zitierten, war ich überzeugt, daß Sie das Motiv für die Tat kannten, wenn vielleicht auch nicht den Hergang. Doch seitdem habe ich mich gefragt: Kannten Sie es wirklich? Wußten Sie überhaupt, was Sie da sagten? Ich starrte Sie an. Ich wartete darauf, daß Sie nun meine Frau festnehmen würden, und im Gesicht müssen Sie mir angesehen haben, vor was ich Angst hatte: daß Sie, um mich zu erschrecken und mir ein Geständnis zu entlocken, mich mit den Worten eines Mannes konfrontierten, von dem alle Welt weiß, daß er der Geliebte seiner Schwester war.
Ich glaube, damit habe ich mich verraten. Spätestens zu dem Zeitpunkt als ich Ihnen mein Buch zu lesen gab. Aber damals dachte ich, Sie seien zu ungebildet, zu abgestumpft und begriffsstutzig, um eine kurze Stelle in meinem Buch mit meinem Leben in Verbindung zu bringen. Doch nun, während draußen der Morgen dämmert und ich in seinem Licht die Dinge kühl und nüchtern betrachte, während ich mir meine provozierende Unverschämtheit Ihnen gegenüber und Ihre kultivierte Gelassenheit ins Gedächtnis zurückrufe, während ich an Ihre brillante Auffassungsgabe denken muß, erkenne ich, daß ich mich geirrt habe. Wenn Sie weiterlesen, wird es Ihnen klarwerden: »Du bester Weiser, Auge unter Blinden du!«
Wordsworth hat das geschrieben, Mr. Wexford. Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, hat auch Wordsworth seine leibliche Schwester geliebt, doch als wahrer Ausbund von Pflichtbewußtsein (»Strenge Tochter der Stimme Gottes« nannte er es) verließ er sie. Nun werden Sie nicht mehr fragen müssen, was mich an Wordsworth fesselte, in welchem Punkt unsere Wesensverwandtschaft begründet lag. Denn obwohl Dorothy in meinem Buch nur als kleines Intermezzo zwischen Annette und Mary auftaucht, wird Ihnen die Parallele nicht entgangen sein; Sie werden bemerkt haben, was mich als jungen Mann auf der Suche nach einem Thema, dem ich mein Leben widmen konnte, an diesem Dichter angezogen hat. Natürlich war dies nur ein Aspekt unter vielen. Meiner Meinung nach wird Wordsworth nur von Milton übertroffen, und mit Coleridge kann ich behaupten: »Wordsworth ist ein sehr großer Mensch, der einzige, dem ich mich zu allen Zeiten und in allen Spielarten der Kunst unterlegen fühle.«
Meine Wahl hätte selbstverständlich auch auf Lord Byron fallen können. Das Naheliegende einer solchen Entscheidung stieß mich daran ab. Ferner wollte ich mein Talent nicht an jemanden vergeuden, den ich für oberflächlich und schwülstig halte, einen großmäuligen Popstar, nur
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