Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
der sein Schwert zieht. Er hatte schreckliche Dinge gesagt. Sie von diesem zurückhaltenden, beherrschten Mann zu hören war viel schlimmer als von den Kingsmarkhamer Rowdies, die immer so redeten. Wie wenn man ein hübsches Buch aufschlägt, von jemand geschrieben, dessen Bücher man schätzt und sich in der Bücherei extra zurücklegen läßt, und auf ein Wort stößt, das sonst immer nur durch Pünktchen ersetzt wird.
Obwohl Camb in diesem Augenblick eigentlich lieber etwas Freundlicheres gesagt hätte - war er nicht alt genug, um der Vater dieses Mannes zu sein? -, seufzte er nur und antwortete mit seiner ausdruckslosen, offiziellen Stimme: “Mr. Wexford ist nach Hause gegangen, Sir. Er sagt, er...«
»Das ist alles?«
»Nein, Sir. Da ist ein vermißtes Kind und...«
»Warum, zum Teufel, sagen Sie das nicht gleich?«
“Ist schon alles in die Wege geleitet«, stammelte Camb. »Martin weiß davon und hat bestimmt Mr. Wexford angerufen. Hören Sie, Sir, es steht mir nicht zu, mich da einzumischen, aber - also, warum gehen Sie nicht einfach nach Hause, Sir?«
»Wenn ich Ihren Rat brauche, Sergeant, frage ich Sie. Das letzte vermißte Kind ist nie gefunden worden. Ich werde nicht nach Hause gehen.« Wozu auch. Er sprach es nicht aus, aber die Worte waren da, und der Sergeant hatte sie gehört. »Geben Sie mir eine Leitung nach draußen, ja?«
Camb tat wie geheißen, und Burden sagte: »Meine Wohnung.« Als Grace Woodville am Apparat war, übergab Camb den Hörer an ihren Schwager. »Grace? Mike hier. Warte nicht mit dem Essen auf mich. Ein Kind wird vermißt. Ich komme wahrscheinlich gegen zehn.«
Burden knallte den Hörer auf und ging zum Fahrstuhl. Camb starrte zehn Minuten lang ausdruckslos auf die Türen, dann kam Sergeant Mathers herunter, um ihn abzulösen.
Der Bungalow in der Tabard Road sah genauso aus wie zu Jean Burdens Lebzeiten. Die Böden glänzten, die Fenster blitzten, und in den Steingutvasen standen Blumensträuße - um diese Jahreszeit waren es Chrysanthemen. Schlichtes englisches Essen wurde zur geregelten Zeit aufgetragen, und die Kinder wirkten gepflegt wie von einer liebevollen Mutter. Um halb neun waren die Betten gemacht, gegen neun hing die Wäsche auf der Leine, und eine wohlklingende, fröhliche Stimme begrüßte die Nachhausekommenden.
Grace Woodville hatte für all das gesorgt. Das Haus genauso zu führen wie zuvor ihre Schwester und mit den Kindern ebenso umzugehen, wie sie es getan hatte, war ihr als einzig möglicher Weg erschienen. Sie selbst sah ihr schon so ähnlich, wie ein Nichtzwilling seiner Schwester nur sehen kann. Und es hatte sich als richtig erwiesen. Manchmal schienen John und Pat es beinah zu vergessen. Sie kamen zu ihr, wenn sie verletzt oder in Schwierigkeiten waren oder etwas Interessantes zu erzählen hatten, genau wie sie es bei Jean getan hatten. Sie schienen glücklich zu sein, die Wunde vom vergangenen Jahr schien langsam zu verheilen. Für die Kinder und das Haus und die praktischen Alltagsdinge hatte es sich als richtig erwiesen, aber nicht für Mike. Natürlich nicht. Hatte sie das wirklich angenommen?
Sie legte den Telefonhörer auf und schaute in den Spiegel, aus dem Jeans Gesicht ihr entgegenblickte. Solange Jean noch lebte, hatte sie es nie so empfunden, ihr Gesicht war ihr ganz anders, kantiger und energischer und ausgefüllter und - ja, warum sollte man es nicht sagen? - intelligenter erschienen. Nun sah es aus wie Jeans. Die Lebhaftigkeit, der scharfe Witz waren daraus verschwunden, und das war nicht weiter verwunderlich, wenn sie überlegte, wie sie ihre Tage verbrachte, mit Kochen und Saubermachen und Trösten und dem Warten auf einen Mann, der alles als selbstverständlich ansah.
»John?« rief sie laut. »Das war dein Vater. Er kommt nicht vor zehn nach Hause, ich glaube, wir sollten schon mal essen, oder?« Seine Schwester suchte im Garten Raupen für ihre Sammlung, die sie in der Garage hatte. Grace hatte mehr Angst vor Raupen als die meisten Frauen vor Mäusen oder Spinnen, doch sie mußte vorgeben, sie zu mögen, ja sich sogar für sie zu begeistern, weil sie doch Pat die Mutter ersetzen mußte. »Pat! Essen, Schätzchen. Beeil dich.«
Das kleine Mädchen war elf. Sie kam herein und schob die Streichholzschachtel auf, die sie in der Hand hielt. Beim Anblick der fetten grünen Kreatur darin krampfte sich Grace alles zusammen. »Sehr hübsch«, meinte sie schwach. »Ein Lindenschwärmer?« Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht, und
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