Der Lilienpakt
einmal mehr, wie oft er ihn dafür schon verflucht hatte. Der Fluch galt auch seinem Vater, dem Totengräber von Paris. Warum hatte er nicht einen seiner Knechte losgeschickt?
Die Antwort lag auf der Hand. Der in grobes Segeltuch gewickelte Tote auf seinem Wagen war kein gewöhnlicher Toter.
Der Bursche erinnerte sich noch gut an den Fremden, der vor zwei Tagen an ihre Tür geklopft hatte. Durch seinen schwarzen Mantel war er beinahe vollkommen mit der Dunkelheit verschmolzen. Sein Gesicht war unter einer Maske verborgen gewesen. Er hatte seinen Vater zu sprechen verlangt, und offenbar hatte dieser den seltsamen Besucher schon erwartet. Er bat ihn herein, bewirtete ihn mit dem besten Wein, den er hatte, und schickte seinen Sohn dann fort.
Der Bursche hatte sich gefügt, aber an der Treppe gelauscht. Von einem Toten war die Rede, einem Toten, den er in zwei Tagen abholen sollte. Der Wunsch, den der Fremde geäußert hatte, war höchst seltsam gewesen. Er wollte, dass ihm die Leiche überlassen wurde. Einen Grund hatte er nicht genannt, nur dass der Mann nicht auf dem Friedhof begraben werden sollte – stattdessen sollte er zu den Katakomben gebracht werden.
Sein Vater vermutete, dass es sich bei dem Besucher um einen Arzt handelte, der anatomische Studien vornehmen wollte. Das kam häufig vor, obwohl es verboten war. Dass der Besucher bereits vom Ableben dieses bestimmten Mannes wusste, war auch ihm ein wenig unheimlich gewesen, aber das Geld, das sein Vater für den Gefallen erhalten hatte, ließ alle Bedenken verstummen.
Pech nur, dass er seinen Sohn neben der Treppe bemerkt hatte. Der hatte daraufhin sogleich den Auftrag erhalten, den Wunsch des vornehmen Herrn – denn das musste er sein, wer sonst sollte so viel Geld für eine Leiche bezahlen – zu erfüllen. Und nun mühte er sich durch die Kälte.
Doch schließlich, nachdem das Pferd einige Male beinahe auf dem vereisten und unebenen Untergrund ausgerutscht war, tauchte vor ihm der Zugang zu den Katakomben auf. Dieser lag hinter einer schweren, eisenbeschlagenen Tür, die auf den ersten Blick den Eindruck machte, als ließe sie sich von außen nicht öffnen. Weder eine Klinke noch ein Ring waren zu sehen.
Den Burschen überlief ein eisiger Schauder. Er kannte zahlreiche Geschichten von Geheimbünden, die Leichname für ihre dunklen Zwecke missbrauchten. Möglicherweise gehörte der Mann, der diese Leiche haben wollte, dazu.
Warum sonst hätte er ihn hierherbestellt?
Ein metallisches Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Wie von Geisterhand öffnete sich die Tür. Der Junge blickte gebannt auf den Türspalt, aus dem diffuses Licht fiel. Eine Gestalt in einem schwarzen Mantel erschien darin. Das musste der Mann von gestern sein. Sein Gesicht konnte der Junge unter der Kapuze allerdings nicht ausmachen.
»Hast du ihn?«, fragte der Vermummte.
Der Bursche nickte, dann sprang er vom Wagen. Es war unwahrscheinlich, dass ihn jemand beobachtete. Dennoch blickte er sich nach allen Seiten um, bevor er den in ein Leintuch eingeschlagenen Körper von der Ladefläche des Wagens zog. Der Mantelträger kam ihm zu Hilfe. Er behandelte den Toten mit äußerster Vorsicht.
»Gib acht!«, zischte er dem Jungen zu, als diesem der Leichnam wegzurutschen drohte. »Er darf auf keinen Fall Schaden erleiden!«
Der Junge wurde vom Grauen beinahe überwältigt, als ein Arm aus der Umwicklung glitt und seine Haut berührte. Wie warm der Tote noch war! War das Leben noch nicht vollständig aus ihm gewichen?
Keinen Augenblick länger wollte er diesem schändlichen Treiben zusehen! Zusammen mit dem Fremden, dessen Kapuze auch unter der Anstrengung nicht verrutschte, trug er den Toten durch die Tür. Eine Fackel warf einen Lichtfleck an die Wand und auf den Fußboden. Der Rest des Ganges wurde von Dunkelheit verschluckt. Trotz der überall herrschenden Kälte kam ihm ein feuchtwarmer, schrecklich stinkender Brodem entgegen.
Das Herz schlug dem Jungen bis zum Hals. Was, wenn der Fremde ihn jetzt tötete? Satansanbetern war so etwas durchaus zuzutrauen. Seine Hände zitterten, als er den Leichnam zu Boden gleiten ließ. Misstrauisch blickte er zu seinem Begleiter.
»Was ist mit dem Rest des Lohns?«, erkühnte er sich zu fragen.
Der Mann musterte ihn kurz, dann griff er unter sein Gewand. Der Junge, der vermutete, dass er einen Dolch ziehen würde, schreckte zurück. Dann erkannte er einen Lederbeutel in der Hand des Fremden.
»Hier, dein Lohn.«
Die behandschuhten Finger
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