Der lockende Ruf der grünen Insel: Roman (German Edition)
deutlich in ihren Visionen gesehen hatte. In einiger Entfernung waren die Herden grasender Schafe, die scharfen Felsen des Kliffs und der smaragdgrüne Teppich, der alles zusammenhielt. Dahinter und zur Rechten, wo der Weg eine Biegung machte, sah sie das Haus - ein schönes viktorianisches Gebäude, das hier jedoch so absonderlich aussah, wie es auch war mit der zerfallenen Burg gleich nebenan.
Danni ließ ihren Blick wieder über den Horizont gleiten und hielt Ausschau nach dem letzten Teilchen ihrer so verwirrenden Vision. Dann sah sie es. Dort, durch die Entfernung kleiner wirkend, stand die seltsame Anordnung der drei mächtigen Steine, die einen vierten in der Schwebe hielten wie bei einem riesigen Kartenhaus.
Obwohl sie wünschte, damit aufhören zu können, stellte Danni sich die Schritte vor, die sie in ihrer Vision gegangen war - und durchlebte erneut die Unruhe und Angst, die sie empfunden hatte, als sie nun die Entfernung zwischen dem Dolmen und dem anonymen Grab abschätzte, in dem sie ihren eigenen Leichnam neben dem des Jungen hatte liegen sehen - der Michael hieß, wie sie jetzt wusste. Unerbittlich wurden ihre Augen zu der Stelle hingezogen, an der sie und der erwachsene Sean gestanden hatten. Zu dem Grab ... einem Grab, das erst noch ausgehoben werden musste.
Colleen, die vor ihr ging, blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Schon gut, Kind«, sagte sie. »Nun wird alles gut.«
Ihre Stimme lenkte Dannis Blick von dem grausigen Ort ab, und sie starrte Colleen an, deren gemurmelte Worte in ihr widerhallten.
Nun wird alles gut.
»Was willst du damit sagen?«, fragte Danni und beeilte sich, die ältere Frau einzuholen.
Colleen ging noch schneller, doch Danni ließ nicht zu, dass sie ihre Frage ignorierte, sondern wiederholte sie noch einmal laut und deutlich.
»Ach, nur dass du so verstört aussiehst. Aber wie jede junge Braut vermisst du sicher deinen Ehemann.«
Das klang aufrichtig genug, doch Dannis Kindheit, in der sie von einem Heim zum anderen geschickt worden war und nie gewusst hatte, was sie erwartete, hatte sie zu einer guten Menschenkennerin gemacht. Und sie war sich sicher, dass mehr hinter Colleens Bemerkung gesteckt hatte als der Gedanke, dass Danni »ihren Ehemann« vermisste.
Ein unangenehmer Verdacht beschlich sie, als sie Colleen einholte und neben ihr weiterging. »Weißt du, wer ich bin, Colleen?«, fragte sie leise.
Die ältere Frau versteifte sich bei der Frage, aber langsamer ging sie deshalb nicht. Nachdem sie bisher pausenlos geredet hatte, war sie auf einmal erstaunlich still.
Danni, die ihr prüfend ins Gesicht blickte, sah, wie schmal ihre Lippen wurden und wie sich ihre Augenbrauen zusammenzogen. »Und? Weißt du, wer ich bin?«, beharrte sie.
»Oh, natürlich weiß ich das«, erwiderte Colleen mit vorgetäuschter Fröhlichkeit. »Du bist Danni Ballagh aus Amerika und uns allen sehr willkommen auf unserer Insel.«
Danni griff mit einer Hand nach Colleens Arm und zwang sie, stehen zu bleiben. Colleen versuchte, an ihr vorbeizusehen, aber Danni ließ sie nicht los und rührte sich auch nicht, bis die ältere Frau ihren Blick erwiderte. Schweigend und prüfend musterten sie einander.
Das Alter hatte von Colleen einen Tribut gefordert, der den des bloßen Stroms der Jahre überstieg. Es hatte ihre schmalen Schultern gebeugt und ihr Gesicht gezeichnet. Aber es hatte sie auch innerlich gestählt. Jetzt atmete sie tief aus und nickte müde. Die reizende kleine Großmutter oder Großtante verschwand mit dem angehaltenen Atem, und an ihrer Stelle stand nun eine Frau, die ein Leben ertragen und überstanden hatte, über das Danni nur Vermutungen anstellen konnte.
»Also gut, ich weiß es«, sagte Colleen schließlich. »Aber ich würde jede Wette eingehen, dass du, Kind, keine Ahnung hast, wer du sein könntest.«
Danni spürte, dass sie den Punkt erreicht hatten, auf den Colleen die ganze Zeit schon hingesteuert hatte, und auch wenn der Gedanke ihr plötzlich Angst einjagte, würde ein Rückzug das Unvermeidliche doch nur aufschieben, wie sie wusste. Während sie spürte, wie sie instinktiv die Wahrheit in Colleens schlichter Feststellung akzeptierte, fragte Danni: »Weißt du, warum ich hier bin? Hast du mich hierher gebracht?«
»Ich?« Colleen schüttelte den Kopf. »Denkst du, ich wäre eine Zauberin, die nur einen Stab zu schwenken braucht, um so etwas zu bewirken?«
»Bist du eine?«
Colleen grinste, aber sie schüttelte den Kopf. »Die Frage ist
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