Der lockende Ruf der grünen Insel: Roman (German Edition)
Edels Hand in der Scheußlichkeit des Buches nicht sehen zu müssen. Aber Edels Schreie durchdrangen die Luft, die Wände, den Moment. Ein endloses Gekreisch, das Danni für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen würde.
Und dann war plötzlich alles still.
Danni wusste nicht, wovor sie mehr Angst hatte - hinzusehen oder es nicht zu tun -, als sie die Augen öffnete. Edel war nicht mehr da, das Buch wieder nur ein reglos auf dem Tisch liegender Gegenstand.
Fia und ihre Mutter bewegten sich nervös, aber keine der beiden Frauen sagte etwas, und auch keine suchte das verschwundene Mädchen. Sie warteten nur ab und sahen zu, wie die goldene Uhr auf dem Kaminsims die Sekunden wegtickte.
»Wird sie wiederkommen?«, fragte Fia schließlich.
Die Mutter antwortete nicht, sondern verfolgte nur wie gebannt die Bewegung des Sekundenzeigers an der Uhr.
Eine Minute verstrich, dann eine zweite und eine dritte. Fia legte ihre zitternden Hände vor den Mund. Zehn Minuten vergingen, und noch immer rührte sich die Mutter nicht. Zwanzig Minuten verstrichen, dreißig ...
»Sie kommt nicht wieder, oder?«, wisperte Fia.
Steif wie ein Roboter ging die Mutter zu dem Buch und wickelte es in die Leinwand ein. Sehr vorsichtig nur, um es nicht zu berühren, bemerkte Danni. Dann brachte sie es zu der Truhe, verstaute es darin und schloss den Deckel ab.
Als sie sich wieder Fia zuwandte, war ihr Gesicht ganz hart und grimmig. Für einen beunruhigend langen Augenblick starrte sie ihre jüngere Tochter schweigend an.
»Mum?«, fragte Fia dann, und Danni konnte die Furcht wahrnehmen, die wie eisige Finger nach Fias Kehle griff.
»Morgen machst du dich auf die Suche und bringst das kleine Biest zurück«, sagte die Mutter.
17. Kapitel
N ialls Boot, die Guillemot, erwartete sie am Hafen wie an tausend anderen Morgen in Seans Leben. Der Kahn war ebenso sehr ein Teil seiner Kindheit wie seine Familie. Sein zweites Zuhause gewissermaßen.
Die Guillemot war ein mittelgroßes Fischerboot, das mit Riggungen und vielen Leinen zum Fischen mit der Schleppangel versehen war. Alt und verwittert, aber noch immer seetüchtig, sah es nicht gerade nach viel aus - und für den gewöhnlichen Fischer war es das gewiss nicht. Doch ein Fischer wie alle anderen war Seans Vater auch nie gewesen. Könnte Fischen als eine Kunst betrachtet werden, wäre sein Vater ein anerkannter Meister seiner Zunft gewesen. Sobald er an Bord war, wusste Niall ganz genau, wohin er sein Schiff lenken musste - er hatte einen verdammten Leitstern in seinem Kopf, der es nur selten versäumte, ihn zu seinem Fang zu führen -, was gar keine leichte Aufgabe in den Gewässern um die Isle of Fennore war.
Seit Jahrhunderten verschlangen die unberechenbare Strömung, der heimtückische Sog und die nicht weniger tückische Kabbelung unvorsichtige Seeleute und spuckten ihre Überreste wieder aus. Noch lange, nachdem das irische Festland besiedelt und umkämpft worden war, war die Isle of Fennore unberührt vom Menschen geblieben. Nicht einmal die Wikinger hatten ihre Küsten erreichen können. Der Legende nach besaßen die Seemänner, die es schließlich bis nach Fennore schafften, einen sechsten Sinn, ohne den auch sie bei dem Versuch gestorben wären. Sean glaubte daran und war fast sicher, dass sein Vater vielleicht sogar noch einen siebten Sinn besaß, was die Gefahren dieser heimtückischen See anging.
Bevor Seans Mutter und Bruder gestorben waren, vor dem Verschwinden von Fia MacGrath und ihren Kindern, das fünf Jahre danach geschah, war Niall ein allseits bewunderter und angesehener Mann in Ballyfionúir gewesen. Eine Art Berühmtheit unter den Fischern. Seans Mutter hatte das lächerlich gefunden. »Berühmt für den Gestank der See«, hatte sie gefaucht, wann immer jemand etwas dazu sagte.
Zeit und Distanz schienen Seans Erinnerung an seinen Vater geschärft, aber auch freundlicher gemacht zu haben. Wieder mit Niall zusammen zu sein, war, wie einem entfernten Verwandten zu begegnen. Er war Sean vertraut, und trotzdem war er ihm auch ziemlich fremd. In all den Jahren seit Nialls Selbstmord hatte Sean sich eingeredet, er hasste seinen Vater, doch als er jetzt neben Niall stand, konnte er nicht mehr so tun, als träfe das noch zu. Heute betrachtete er Niall mit Augen, die ungetrübt waren vom Schwarz-Weiß-Denken der Jugend, und was er sah, war, dass sein Vater einfach nur ein Mann war. Ein Mann, der sein Bestes tat, um einen Sohn großzuziehen, der ihm seine Fehler nie
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