Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
dem Gesicht zur Wendeltreppe neben der Toilette, und sah zu, wie sich die Dunkelheit über Helsinki senkte. In New York hatte ich mich oft damit vergnügt, kurz vor der Schließungszeit auf das Empire State Building zu gehen und das Lichtermeer zu betrachten. Helsinki war nicht Manhattan, aber im Abendlicht war die Stadt wehmütig schön wie ein Saxophonsolo in Moll.
Ich zuckte zusammen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte, ich hatte mich überraschen lassen. Noch verwirrter war ich, als ich sah, wer mich berührte. Juri Trankow hätte mir ein Messer in den Rücken stoßen oder mich mit einer Spritze betäuben können, wie er es mit Helena Lehmusvuo getan hatte. Obendrein grinste er, als hätte er eine alte Bekannte getroffen.
«Guten Abend, Hilja. Darf ich dir einen Drink spendieren?» Diesmal sprach Trankow Finnisch.
«Nein. Bitte geh.» Beinahe hätte ich gesagt, ich sei gerade im Aufbruch, doch von einem Juri Trankow würde ich mich nicht aus der Panoramabar vertreiben lassen. Es gab kaum noch freie Tische, und Trankow nahm ungeniert mir gegenüber Platz.
«Ich habe doch gerade gesagt, ich möchte keine Gesellschaft.»
«Warte!» Trankow legte seine Hand auf meine. Die Berührung war widerwärtig, als hätte er das Recht beansprucht, meinen Körper für seine Zwecke zu benutzen. Wir befanden uns an einem öffentlichen Ort, mir drohte keine Gefahr. Um nach Hause zu kommen, brauchte ich nur die Straße zu überqueren. Doch natürlich wusste Trankow ganz genau, wo ich wohnte.
«Hier gibt es keinen Tischservice, du musst an der Theke bestellen», hatte ich gerade gesagt, als eine Kellnerin erschien und Trankow nach seinen Wünschen fragte.
«Eine Bloody Mary, bitte.» Zum ersten Mal sah ich Trankow freundlich lächeln. Plötzlich wirkte er harmlos wie ein kleines Hündchen, seine Augen strahlten. Beim Verkauf des Luchsgemäldes hatte er Frau Voutilainen so bezaubert, dass sie überzeugt war, er sei ein anständiger junger Mann. Zum Glück kannte ich die Wahrheit.
«Und für die Dame?»
«Noch einen Kakao, diesmal ohne Rum, aber mit Schlagsahne. Der Herr zahlt.» Ich lächelte Trankow an, obwohl es mir schwerfiel. «Vergiss nicht, die finnischen Verkehrsregeln zu lernen. Wer das größte Auto fährt, darf anderen trotzdem nicht den Parkplatz vor der Nase wegschnappen, und es ist üblich, den Parkschein aus dem Automaten zu nehmen.»
Trankow wirkte perplex, offensichtlich reichten seine Finnischkenntnisse nicht weit genug. Neben uns schoben japanische Touristen Stühle beiseite und deuteten eifrig auf ein Kreuzfahrtschiff, das über das Meer glitt. Zwanzig Stunden Schnaps und fremdes Fleisch, diese Art des Reisens hatte ich nie genossen. Auf einem Schiff konnte man keinem aus dem Weg gehen, und wenn jemand plante, den ganzen Pott in die Luft zu jagen, ließ sich das allzu leicht bewerkstelligen.
Die Kellnerin brachte unsere Getränke, die Trankow mit der Kreditkarte bezahlte. Einen flüchtigen Moment lang überlegte ich, ob er das Ganze vorbereitet und die Kellnerin bestochen hatte, mir etwas in den Kakao zu mischen. Ich traute ihm alles zu, und in dem verwinkelten Lokal hätte er sich wer weiß wie lange herumtreiben können, ohne dass ich ihn bemerkte. Ich hatte nach draußen gestarrt und an David gedacht, statt auf die anderen Gäste zu achten. Vorsichtig probierte ich meinen Kakao, um ihn notfalls stehenzulassen. Aber er schmeckte genau wie der vorige, nur der Rum fehlte.
«Was hast du mir gerade erklärt … über die finnischen Verkehrsregeln?» Trankow wechselte zum Englischen über. Allerdings hatte sich sein Finnisch natürlicher angehört, die englischen Konsonanten klangen zu hart.
«Sag mir lieber, wieso du in Finnland bist. Wer hat dein Einreiseverbot aufgehoben?», fragte ich, ebenfalls auf Englisch.
Trankow zuckte die Achseln. «Woher soll ich das wissen? Ich stehe nicht unter Anklage. Ich bin sauber, und ich habe eine feste Anstellung in Usko Syrjänens Firma.»
«In welcher von den vielen?»
«Im Bauunternehmen. Ich habe eine Ausbildung als Architekt. Die ist allerdings noch nicht ganz abgeschlossen.»
«Ein künstlerischer Typ. Bei deinem letzten Aufenthalt in Finnland hast du den Maler gespielt.»
«Den habe ich nicht gespielt! Ich male immer noch, ich habe mein Leben lang gemalt. Es ist nur so schwer, davon zu leben, und Vater … nicht alle halten das für eine richtige Männerarbeit.»
«Ist es dir so wichtig, was Paskewitsch denkt?»
Bei der Erwähnung des Namens
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