Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
Luchs. In New York hatte ich die Totemtier-Theorien der Indianer kennengelernt; in ihrer Mythologie waren Luchse Beschützer und Geheimnisträger. Ich erinnerte mich, wie meine Mutter bis zuletzt versucht hatte, mich vor meinem Vater zu schützen, wie ich auf ihren Befehl in ein sicheres Versteck gekrochen war.
«Keijo war auf jeden eifersüchtig, sogar auf mich, einen Teenager. Das hat sich bei der Hochzeit gezeigt. Ich tanzte zu eng und zu lange mit Anneli, und Keijo sah wohl, wie glücklich ich über ihre Nähe war. Es hat nicht viel gefehlt, und er hätte uns beide verprügelt, aber das hat er sich dann doch nicht getraut, weil Annelis Bruder dabeistand. Der Jari, ein netter Mann.»
Kari Suurluoto war nicht erstaunt gewesen, als er erfuhr, dass Keijo Anneli umgebracht hatte. Erschüttert, traurig und wütend, das ja, aber nicht überrascht. Es war zu erwarten gewesen, das hatten alle Suurluotos gesagt, doch über die Schuldfrage waren die Meinungen auseinandergegangen. Keijos Vater konnte sich nicht mehr dazu äußern, aber seine Mutter sagte, Anneli habe nur bekommen, was sie verdient habe. Ständig mit dem Po wackeln und den Männern schöne Augen machen!
«War es so? Sag es mir ruhig ganz offen, ich halte es aus.»
«Das kommt auf die Interpretation an. Auch ich habe mir gewünscht, dass hinter Annelis Lächeln und ihren Umarmungen mehr steckte als pure Freundlichkeit. Aber mehr war es wohl tatsächlich nicht. Anneli war einfach so, fröhlich und offen. Vielleicht kam das daher, dass in ihren Adern Wiborger Blut floss, ihre Mutter wurde ja im Krieg von dort vertrieben. Ach, wie leid hat mir deine Großmutter getan, damals bei der Beerdigung! Ist sie nicht bald darauf auch gestorben?»
«Sie hat noch ein paar Jahre gelebt, aber mit gebrochenem Herzen. Ich bin ziemlich bald zu Onkel Jari in Pflege gekommen.»
«Hattest du es gut bei ihm? Meine Mutter wollte dich nicht bei uns aufnehmen, sie hatte wohl Angst vor Keijo. Und das nicht ohne Grund, immerhin hat er es zweimal geschafft, auszubrechen.»
Die Welt blieb stehen, der Schatten des Baums an der Wohnzimmerwand schaukelte nicht mehr, die Nachbarin, die den Müll wegbrachte, erstarrte.
«Auszubrechen? Ist Keijo Suurluoto, oder inzwischen ja Keijo Kurkimäki, irgendwann aus dem Gefängnis entkommen?»
«Aus der psychiatrischen Anstalt für Gefangene. Sogar zweimal. Die erste Flucht dauerte nicht lange, nur ein paar Stunden. Aber beim zweiten Mal war er, wenn ich mich recht erinnere, drei Tage auf freiem Fuß. Es wurde nicht publik gemacht, aber die Polizei hat Keijos Schwester gewarnt, ihr Bruder würde womöglich versuchen, zu ihr nach Tuusniemi zu gelangen. In der Gegend von Kuopio hat man ihn dann geschnappt, er war betrunken, hat auf dem Marktplatz randaliert und mit Heringen nach den Möwen geworfen. Wir haben damals in Brüssel gewohnt, meine Frau hatte eine Stelle bei der EU , und ich habe die Kinder gehütet, daher bin ich über die Einzelheiten nicht so genau informiert. Soweit ich mich erinnere, hat er einen Gefängniswärter schwer verletzt, und wohl auch irgendein junges Mädchen. Aber das ist ja schon gut zehn Jahre her.»
Da ich von dem Vorfall nichts erfahren hatte, musste er sich wohl in der Zeit zugetragen haben, als ich in New York wohnte. Den letzten Anruf von meinem Vater hatte ich vor zwei Jahren bekommen. Bei der Eröffnung des Sans Nom hatte ich darauf geachtet, dass ich auf keiner Aufnahme der Pressefotografen zu sehen war, denn mein Vater saß zwar hinter mehrfachen Gittern und elektrischen Schlössern, doch er durfte telefonieren. Ich hasste es, dass seine Stimme eine so starke Wirkung auf mich hatte. Als ich ihn zum letzten Mal sah, hielt er meine tote Mutter in den Armen und bat sie um Verzeihung. Ich wusste nicht, ob sie ihm vergeben hätte. Ich selbst würde dazu niemals fähig sein.
14
Ich redete noch zwanzig Minuten mit Kari Suurluoto. Er arbeitete als Abteilungsleiter in einem großen Geschäft für Haushaltsgeräte in Leppävaara und sagte, er würde sich gern mit mir treffen, wenn ich es für nötig hielte. Dann könne er auch sehen, ob ich Ähnlichkeit mit Anneli hätte. Ich versicherte ihm, er würde enttäuscht sein, denn ich hätte Keijos Gesichtszüge geerbt.
Warum hatte mir niemand erzählt, dass Keijo ausgebrochen war? Ich war damals in New York gewesen, aber man hätte mich trotzdem informieren müssen. Immerhin ging es um meinen Vater, auch wenn er das Sorgerecht verloren hatte, als er ins Gefängnis kam.
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