Der Lügner
den Festspielen nach Salzburg gekommen war; so ungehobeltes Benehmen war von der Journaille zu erwarten.
Sacht klopfte Rudi an die Tür zum Wohnzimmer der Franz-Josef-Suite und horchte auf Antwort. Dies war seine erste Woche im Österreichischen Hof, und er war nicht sicher, ob man einfach klopfte und eintrat, wie er es im Hotel zur Post in Fuschl am See gemacht hätte, wo er sein Handwerk gelernt hatte. Der Österreichische Hof war insgesamt eleganter als das Hotel zur Post, und hier wurden die Sachen nach internationalem Maßstab erledigt, mit Geschmack, Stil, Höflichkeit, Diskretion und einem kleinen Schuß österreichischer
Gemütlichkeit
.
Von drinnen kam keine Antwort. Aber irgend jemand hatte eine Flasche Absolut Lemon Wodka und drei Gläser bestellt, jemand hatte dem Zimmerservice Bescheid gesagt. Also durfte er doch annehmen, daß jemand im Zimmer war? Er klopfte erneut und wartete.
Noch immer nichts. Höchst sonderbar.
Rudi balancierte das Tablett auf der Schulter, beugte sich zur Tür und gab ein Hüsteln von sich.
Drinnen hörte er eine Stimme. Eine Stimme, die Englisch sprach.
»Entschuldigen Sie …«, rief Rudi durchs Schlüsselloch.
Er merkte, daß seine heisere Stimme nicht durch das dicke Holz der Tür drang. Rudi war ein wenig nervös. Gestern hatte er in der Küche einem wunderschönen Ballon Salzburger Nockerln, der Spezialität des Hauses, die Luft abgelassen, als ihm eine Gabel hineingefallen war, und vor zwei Tagen – Rudi wurde rot, als er daran dachte –, vor zwei Tagen hatte er im Speisesaal die Brust von Signor Muti, dem berühmten Dirigenten, mit Kirschwasser bekleckert. Zum Glück hatte der
Maestro
eines seiner berühmten Poloshirts getragen, und man bemerkte den Fleck nicht sehr, aber die Erinnerung schmerzte Rudi.
Engländer. Waren die taub?
»Excusing me!«
Rudi klopfte erneut, mit gegen die Tür gelehntem Kopf. Er hörte immer noch die Stimme.
»… von unmäßiger und wilder Schönheit, einem kleinen Blaufinken nicht unähnlich, aber viel größer und mit weniger salzigem Nachgeschmack …«
Das verstand Rudi nicht. Das Wort »schön« kannte er natürlich. Englische Mädchen, die mit ihren Familien im Hotel zur Post wohnten, sagten immer, es sei »ein schöner Morgen heute morgen, Rudi«, der Berg und der See und das Schloß seien »einfach wunderschön« und manchmal, wenn er Erfolg gehabt hatte, seine Haare und Augen und Beine und sein Schwanz seien so »schön«. Schön kannte er, aber was war dieser »Blaudinkel«? Natürlich! EinGetreide, wie Weizen oder Gerste, das war Dinkel. Komisches Gespräch, das der Mann da führte.
»… ein gewisses Maß an
Schadenfreude
ist unter diesen Umständen vielleicht unausbleiblich…«
»
Schadenfreude!
« Er konnte Deutsch.
Rudi klopfte, bis seine Knöchel weh taten.
»Entschuldigen Sie bitte, mein Herr. Hier ist der Kellner mit Ihren Getränken!«
»… eine mit dem Motorrad überbrachte Nachricht. Eine merkwürdige neue Erscheinung, diese Meldefahrer …«
Rudi konnte nicht länger warten. Er schluckte zweimal, drehte den Griff um und trat ein.
Wunderschön, die Franz-Josef-Suite. Alfred Brendel, der Pianist, hatte letzte Woche dort gewohnt, und der große Bösendorfer, der für ihn aufgebaut worden war, war noch nicht abgeholt worden. Sie sollten den Flügel dort stehenlassen, dachte Rudi. Zusammen mit den Blumen und den Zigarettenpäckchen und den langen, wehenden Vorhängen gab er dem Zimmer das Aussehen einer Filmkulisse aus den Dreißigern. Äußerst sorgfältig stellte er das Getränketablett oben auf den Flügel und lauschte erneut der englischen Stimme.
»… dieser Fahrer, der auf der Schwelle stand und mir eine Klemmappe entgegenhielt, auf der ich quittieren sollte, erinnerte mich als erstes an eine Ausgabe von Izaak Waltons
Vollkommenem Angler
in meinem Besitz. In Leder gebunden, mit verschwenderischer Punzarbeit und von bleibendem Entzücken …«
»Ihre Getränke sind da, mein Sir.«
»…von dem Paket, das er ablieferte, kann ich nur so viel sagen …«
Die Stimme kam aus dem Schlafzimmer. Nervös näherte Rudi sich ihm.
»… es schockierte mich bis ins Mieder. Von vorn bis achtern zitterte ich …«
Rudi rückte seine Krawatte zurecht und klopfte mit dem Handrücken schwach gegen die halb offene Schlafzimmertür.
»Sir, Ihre Getränke, die Sie bestellt hatten …«
Rudi verstummte.
Die Tür, an die er nur leicht geklopft hatte, war aufgeschwungen und erlaubte den Blick auf einen Mann, der auf
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