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Der Lügner

Der Lügner

Titel: Der Lügner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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kleine Radios und ein Kopfhörer. Der Stuhl stand auf der einen Seite, die Sitzfläche dem Raum zugewandt. Hinter der Bühne verdeckte ein grauer Vorhang die Rückwand, sauber plissiert wie ein Schulmädchenrock. Das Ganze machte den Eindruck einer Dorfhalle in Kent, die sich auf einen Vortrag des Women’s Institute vorbereitet. Einzig das Reliefporträt von Franz Schubert, der über runde Brillengläser mit leutselig akademischer und nicht ganz ernst zu nehmender Miene in den Raum blickte, und die Geweihsammlung, die über die Wände verteilt war, verrieten das österreichische Geblüt des Schauplatzes.
    Eine Anzahl Leute standen am großen Fenster an der einen Seite und zwitscherten leise miteinander wie schüchterne Neuankömmlinge bei einer Vorstadtorgie. Humphrey Biffen, weißhaarig und seltsam groß, beugte sich wie ein aufmerksamer Storch vor, um seinen Schwiegersohn Simon Hesketh-Harvey die Einzelheiten eines außergewöhnlichen Kricketspiels wiedergeben zu hören, das im Laufe des Tages in Yorkshire stattgefunden hatte. Lady Helen Biffen gluckte freundlich mit einem blassen jungen Mann, dessen Augen gerötet waren. Zwischen ihnen scharrte Donald Trefusis mit einer Flasche Eiswein hin und her.
    Genau in dem Moment, als auf einer Stuckkonsole eine vergoldete Porzellanstanduhr mit niedlichem österreichischem Nachdruck sechs schlug, schritt Sir David Pearce herein, gefolgt von einem lächelnden Dickon Lister und einem schafsköpfigen Adrian.
    Pearce sah sich um, außerstande, die Genugtuung über das Schweigen zu verbergen, das sein Eintreten im Raum verursacht hatte. Sein vorbereiteter ärgerlicher Blick huschte zu Biffen und seinem Schwiegersohn hinüber, dann zu Trefusis zurück, der mit drei Gläsern und einer Flasche herbeieilte. »Donald, Sie altes Pissefaß!« bellte Sir David. »Was machen Sie mit meinem Mann Hesketh-Harvey?«
    »Ah, David. Pünktlich fast auf die Sekunde! Sehr erfreut, sehr erfreut.«
    Trefusis bot Lister ein Glas an und blinzelte zu ihm hoch.
    »Sind wir uns …?«
    »Lister, Professor. Sehr angenehm.«
    »Wenn Sie die beiden Gläser halten, Adrian, kann ich einschenken.«
    Fragend betrachtete Trefusis die Schwellung über Adrians Auge. Adrian neigte den Kopf leicht zu Pearce und krümmte den Ringfinger, um die Ursache des Schnittes zu verdeutlichen. Trefusis schaute verständnisvoll hoch und fing behutsam an, Wein einzuschenken.
    »Ich denke, der wird Ihnen gefallen, Mr. Lister … oje, ›Mister Lister‹! Wie unelegant von mir. Das ist ja schlimmer als ›Lord Claude‹, nicht wahr? Oder ›Professor Lessor‹, wo wir grade dabei sind. Das hier nennt sich übrigens Eiswein. Kennen Sie ihn?«
    »Eiswein?«
    »Eiswein, genau.« Amüsiert sah Adrian zu, wie Trefusis das Feuer des Rhetors in die Augen stieg, während er Lister in eine Ecke drängte und zu predigen begann. »Es funktioniert folgendermaßen, man läßt den vollen Effekt der
pourriture noble
oder Edelfäule, wie man’s hier nennt, sich an der Traube austoben, so daß die Frucht von Moder und Zucker richtig glänzt. Dann geht man das kühnste Risiko ein. Man läßt die Rebe am Weinstock hängen und wartet auf den ersten Frost. Manchmal kommt der Frost natürlich zu spät, und die Weintraube verfault; manchmal zu früh – bevor sie richtig vom Traubenschimmel eitert. Wenn jedoch, wie bei diesem Jahrgang, sich die Umstände ideal verketten, verdient das Ergebnis – Sie werden mir sicher zustimmen – Anerkennung und Applaus. Das Leckermaul kehrt im Alter zurück, wissen Sie.«
    Lister nippte an seinem Wein mit allen Anzeichen der Anerkennung. Trefusis schenkte Sir David ein Glas ein und dann Adrian. Das überwältigende Bouquet der dicken, honigsüßen Rebe ließ Adrian, dessen Kopf immer noch von dem Schlag summte und brummte, den Onkel David ihm versetzt hatte, fast das Bewußtsein verlieren. Als er blinzelte und sich aufrichtete, trafen seine sich verengenden Augen den traurigen, ernsten Blick Humphrey Biffens, der aus der Ecke süßlich lächelte und dann fortsah.
    »Ähm«, sagte Trefusis. »Ich schätze, wir sollten besser anfangen. Adrian, ich frage mich, ob es Ihnen etwas ausmachen würde, mich zum Podium zu begleiten?«
    Adrian leerte sein Weinglas, händigte es mit einer, wie er hoffte, eleganten Handbewegung Lister aus und folgte Trefusis zum Podium. Er wurde den Argwohn nicht los, daß diese ganze Scharade nur entworfen worden war, umihn bloßzustellen. Aber Bloßstellung als was, für wen oder wozu, das

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