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Der Lügner

Der Lügner

Titel: Der Lügner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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alle Wünsche erfüllt, aller Durst gestillt, aller Wahnsinn vergangen.
    Im nächsten Sommer würde er Kricket spielen, trainieren und schiedsrichten, der Jugend einen Begriff davon geben, wie man mit dem Ball umgeht, der aus dem Armkommt, ihr auf dem Rasen Browning und Heaney vorlesen, wenn die Sonne schien und es zu heiß war, um drinnen zu unterrichten. Den Rest des Sommers würde man damit verbringen, Milton und Proust und Tolstoi zu entdecken, um bereit zu sein für Cambridge im Oktober, wo sein Geist und seine Schenkel wie die Cranmers – aber mit einem Fahrrad statt auf einem Pferd – Übung finden sollten. Eine Handvoll zivilisierter Freunde, die einem nicht zu nah standen.
    »Was hältst du von diesem Typ an deinem College, diesem Healey?«
    »Es ist schwer, an ihn ranzukommen. Ich
mag
ihn, aber er ist so verschlossen, so unergründlich.«
    »Distanziert irgendwie … fast schon altersweise.«
    Dann einen Abschluß und hierher zurück oder an eine andere Schule – vielleicht sogar eine eigene. Oder gar in Cambridge bleiben … falls er mit einer Eins abschloß.
    Alles fort.
    Natürlich glaubte er sich selbst keinen Augenblick lang.
    Er betrachtete sein Spiegelbild im Fenster. »Es hat keinen Sinn, mich narren zu wollen, Healey«, sagte er, »ein Adrian weiß immer, wenn ein Adrian lügt.«
    Aber ein Adrian wußte auch, daß die Lügen eines Adrian real waren: Sie wurden genauso gelebt und gefühlt und durchgespielt wie die Wahrheiten anderer Menschen – falls andere Menschen Wahrheiten hatten –, und er hielt es für möglich, daß diese letzte Lüge ihn bis zum Grabe durchbringen könnte.
    Er sah zu, wie der Schnee sich am Fenster emporschichtete, und sein Geist erwischte die U-Bahn zum Piccadilly und schritt die Stufen vom Bahnhof hoch.
    Dort stand Eros, der Junge mit dem angelegten Pfeilschaft,und dort stand Adrian, der Lehrer in Tweed und Twill der Kavallerie, sah zu ihm hoch und schüttelte langsam den Kopf.
    »Du weißt doch sicher, warum Eros überhaupt auf dem Platz aufgestellt wurde, nicht wahr?« erinnerte er sich, einen Sechzehnjährigen gefragt zu haben, der eines Juliabends seinen Standort draußen vor dem London Pavillon mit ihm teilte.
    »Nach dem Eros-Stripclub benannt, ne?«
    »Oh, das war knapp, aber ich fürchte, nicht ganz zutreffend, ich muß die Frage weitergeben. Es war eine Art Tribut für den Earl of Shaftesbury: Eine dankbare Nation ehrt den Mann, der die Kinderarbeit abschaffte. Gilbert Scott, der Bildhauer, stellte Eros so auf, daß sein Pfeil und Bogen die Shaftesbury Avenue hinaufzeigen.«
    »Ja? Na, scheiß drauf, da drüben steht ein Freier, der dich schon seit fünf Minuten beäugt.«
    »Hatte ich schon. Benutzt mir zu sehr die Zähne. Der soll sich einen anderen zur Beschneidung suchen. Es geht um eine Art optisches Wortspiel: Eros begräbt seinen Schaft in der Shaftesbury Avenue. Klar?«
    »Und warum zeigt er dann die Lower Regent Street runter?«
    »Man hat ihn während des Krieges abmontiert und gereinigt, und die Blödmänner, die ihn wieder aufgestellt haben, hatten nicht die beschissenste Bohne Ahnung.«
    »Der könnte eine neue Reinigung vertragen.«
    »Bin ich mir nicht sicher. Ich finde, Eros muß schmutzig sein. In der griechischen Mythologie, wie du bestimmt weißt, verliebte er sich in die Halbgöttin Psyche. Die Griechen brachten damit zum Ausdruck, daß die Liebe, egal, was sie glauben mag, die Seele sucht, nicht den Körper; dasErotische begehrt das Psychische. Wenn Eros sauber und heilsam wäre, würde er Psyche nicht begehren.«
    »Er starrt immer noch in unsere Richtung.«
    »Sein Arsch jedenfalls.«
    »Nein, der Freier. Jetzt steuert er auf mich zu.«
    »Ich werde mich verdünnisieren. Zu viele Küken verderben den Preis. Nimm ihn mit meinem Segen. Aber komm hinterher nicht mit halb abgebissener Eichel bei mir angekrochen, mehr sag ich nicht.«
    »Ich geb ihm noch eine Minute, um sich zu entscheiden.«
    »Tu das. Derweil will ich mich fragen, ob es je ein so vergebliches und zugleich absolut typisches Leben gegeben hat wie das des Lord Shaftesbury? Sein eigener, angehimmelter Sohn wurde in Eton bei einem Kampf zwischen Schuljungen getötet, während sein nationales Ehrenmal heute täglich Kinderarbeit von einer Art und Intensität überblickt, von der er sich nie hätte träumen lassen.«
    »Ich werde hier definitiv gebraucht. Bis später.«
    Adrian legte ein Scheit nach und starrte in die Flammen. Er war so sicher, wie er nur sein konnte: ein echter

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