Der Lüster - Roman
sie, ohne es zu wissen, was zählt schon das, was kommen wird … es war so einfach … ein Lebensfrösteln durchlief sie eilig, unerträglich, fast hätte sie sich übergeben. In einem konfusen Eindruck spürte sie, dass es kein Unglück gab, das für ihren Körper zu groß gewesen wäre … ja, dass sie alles aushalten würde, nein, nicht aus Mut, sondern weil vage, vage, weil der Impuls des Anfangs schon gegeben war und sie geboren; sie dachte ihr eigenes Empfinden von Unausweichlichkeit, das am Ende ihre letzte Gewissheit war, am Leben zu sein, die Unmöglichkeit, sich ganz tief im Fleisch einzugestehen, dass sie in diesem selben Moment auch tot sein könnte. Ja, und danach schien sie die Grenze ihrer selbst erreicht zu haben, den Ort, wo sich Freude, Unschuld und Tod vermischten, wo in einem blinden Wandlungsritual die Empfindungen klangen in ein und derselben Schwingung … und da sie ihre Grenze erreicht hatte, setzte sie sich wieder hin, still und weiß, und besah sich beiläufig die Dinge, ohne Warten, ohne Erinnerung; sie rückte den Träger des Unterkleids zurecht, eine der großen blassen Brüste, mit einem Mal zurückgeworfen zum Anfang. Von der Baustelle kamen Stimmen. Sie hatte einen seltenen Moment der Einsamkeit erreicht, wo noch das wahrste Dasein des Körpers zu zögern schien. Sie wusste nicht, worin der nächste Moment bestehen würde – wie zum ersten Mal schwankte das Leben in Gedanken an sich selbst, erreichte dabei einen gewissen Punkt und wartete auf die eigene Ordnung; das Schicksal hatte sich erschöpft, und was sich noch fortsetzte, das war die grundlegende Empfindung zu leben – das Thema war unterbrochen, der Rhythmus pulsierte trocken. Die Augenblicke erklangen frei von ihrem Dasein, und ihr Wesen hob sich ab von der Zeit, über der es dahinlief. Sie drückte die Hand auf die Brust – in Wahrheit war das, was sie fühlte, nur ein schwieriger Geschmack, eine harte und beharrliche Empfindung wie von unlösbaren Tränen, zu rasch geschluckt. Von der Baustelle kamen Stimmen. Sie schien einen Moment lang nachzudenken, dann lauschte sie.
»Und die Kleine antwortet: Geh du doch, ist doch ganz einfach!«
»Und, hast du’s gemacht?«
»Tja, Mann!«
Die letzten Worte gingen in volles, leises Gelächter über, durchdrungen von einem helleren Lachen, in das sich ein drittes mischte, tief und langgezogen; in einer höheren Tonlage lachte ein junger Kerl so ruhig und männlich, dass sie die Ohren spitzte, aber noch bevor er fertig war, fingen alle zusammen von neuem an, misstönend und brutal. Schließlich verstummten sie, und man hörte das Kratzen der Schaufel über die Erde, gefolgt von einem volltönenden Klopfen auf hohlem Holz. Ein schneller Seufzer entfuhr ihr, und sie senkte den Kopf und sah auf den staubigen Boden. Ihr kam erschöpft die Idee, dass die Dinge auf Fortsetzung warteten, dass es an ihr sei, sich zu bewegen und alles andere in Bewegung zu setzen. Den Zug, die Koffer, Vicente. Und da sie sehr weit weg war von sich und ihrer eigenen Kraft, versuchte sie sich, ohne das Wesen ihres Impulses so richtig zu kennen, mit einem Schmerz zu verbinden, der fühlbarer war und möglicher, einem Schmerz von der Art, die eine Lösung nach sich zog; sie brachte sich auf konfuse Weise zu dem Gedanken, dass sie sich von allem trennen würde, und brach in falsche Tränen aus. Aber da war keine Trauer, da waren Müdigkeit und Gleichgültigkeit, während sie resigniert auf die dunklen Dielen starrte. Danach gelang es ihr endlich, auf die Koffer und den Zug hin zu leben, auf ihr tägliches Schicksal und auf die künftigen Tage, die sie zu brauchen schienen, um da sein zu können. Am Grund von alledem, fast unbemerkt, lauerte schrecklich wie ein gelbes, verzweifeltes Licht die Gefahr ihrer selbst, die Angst, noch ein paar Mal die Empfindung von gerade eben zu wiederholen, die Vorahnung eines Beginns, in der sie das Herannahen des Todes erriet, schwindelerregend und ruhig. So durchlebte sie einen zähen Tag ohne Licht. Gebündelt kam die Stunde der Abreise: Die Sonne schien noch auf die Stadt voller Straßenbahnen und Menschen.
Als die beiden Koffer im Gepäckwagen verstaut waren, beobachtete sie die Abschiede der anderen. Der braune Hut schmückte sich mit Blau im Zusammenspiel mit dem Kleid, das sie unter dem langen grauen Mantel trug. Vor allem fürchtete sie den Augenblick, in dem der Zug anfahren würde, den ersten Ruck, das erste Pfeifen und den ersten Schmerz. Sie betrat die enge
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