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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Mädchengesicht auf, die Züge vage und scharf wie der Schall eines Horns in der durchsichtigen Ferne.
    Frühmorgens schlug sie die Augen auf, als formte sich das Aufwachen in ihr langsam und ohne ihr Wissen und erblühte dann reif, vollkommen und unbegreiflich. Sie sah um sich herum das Zimmer, das sich still aus der Finsternis erhob. Eine kühle Brise wehte. Sie schob mit den Beinen die Laken weg, ohne Ungeduld, eine Bewegung, so voll und ausgeglichen, dass sie den Daseinszweck ihrer Gliedmaßen erschöpfte. Der Raum trieb im Dämmerlicht, und die eisigen Schatten vertieften seine Konturen, schufen Abstand zu den weißen Wänden, die ihr Schutz boten in einer Verwirrung, die einen nebligen Abgrund hinter sich versprach. Barfuß trat sie ans Fenster, schob die Scheiben hoch, und eine ausgeruhte Frische traf sie am ganzen Körper, als trüge sie nicht das kurze Hemd aus festem Stoff. Unten in dem vagen, schläfrigen Garten erhob sich jeder Stängel aus einem Lichtkreis aus kaltem, weißlichem Rauch. Sie beobachtete die Stille des Morgens, als hörte sie in sich die Auferstehung eines Symbols.
    »Du bist früh auf«, sagte Esmeralda leise und schob ihr mit einem Seufzen die Kaffeekanne hin.
    »Na, ich habe noch nicht mal gefrühstückt!«, erwiderte Virgínia mit durchdringender, unangenehmer Stimme.
    »Sprich doch leiser, Himmel!« Esmeralda runzelte die Brauen und das Gesicht, als hätte sie etwas gekratzt. Nach und nach löste sie die Falten, sie glättete ihre Wangen mit einem Ausdruck der Erschöpfung, öffnete die Augen langsam wieder. »Ich habe nicht mehr den Mut, durch diese Sümpfe zu laufen«, sagte sie und goss gedankenverloren Kaffee in Virgínias Tasse.
    Und dann war auf einmal alles einfacher. Daniel lag auf dem Boden, und der Baum darüber war das Nächste, das es gab, ein Wesen, das den Himmel beherrschte. Virgínia hatte sich auf einen Stein gesetzt und piesackte mit einem trockenen Zweig die Ameisen. Er nieste, und das Niesen zerteilte die Luft in alle Richtungen, kleine Pfeile, die in der Sonne glänzten und mit einem feinen Geräusch auseinanderbrachen. Virgínia suchte mit den Augen, was sie ohne Unterlass ringsum funkeln spürte, ein Singen irgendwo. Es war ein zittriger Wasserfaden, der aus der Leitung über den Boden lief. Sie drehte sich um, versuchte zu vergessen. Aber sie wusste, dass das Funkeln andauerte, und diese unbequeme und lebendige Gewissheit schien ihr in die Augen zu stechen. Sie stand auf, um den Hahn zuzudrehen. Als sie zurückkam, hatte Daniel sein Gesicht still im Schatten, die Muskeln gelockert, vielleicht dachte er tief. Aber er sagte nichts, und auch sie schwieg, presste die Lippen aufeinander, weil sie schon als Kinder ausgemacht hatten, sich nie zu überstürzen. Dann, nach langen Momenten der Leere, kam fast der Augenblick, in dem es nicht schaden konnte, ein Gespräch anzufangen. Sie traf ihre Wahl und sprach leise von einfachen Kleinigkeiten, stellte rasche Fragen, mit gerunzelter Stirn und gleichgültiger Miene; die Antwort kam trocken und prompt. Und plötzlich ging sie beinahe fehl, wagte sich zu weit aufs Meer hinaus, indem sie sich erkundigte:
    »Und die alte Cecília? Hast du sie mal wieder gesehen?«
    Er warf ihr einen schnellen Blick zu, mit fast rauer Überraschung, lächelnd und beklommen sah sie ihn an, damit er hoffentlich begriff, dass die Erinnerung möglich war, Daniel; sie war möglich, sie gehörte zu ihnen, die Frage bedeutete nicht einfach nur: »Wie geht es der alten Cecília«, denk gut nach, Daniel … Er zögerte einen Moment lang, wiegte den Kopf, verstehend, fast lächelnd. Virgínia atmete hoffnungsvoll, dachte selbst an den Besuch zurück, den sie Cecília abgestattet hatten, an einem Abend, versunken in der Erinnerung. Mein Haus! das ist das Haus! … sagte die Frau mit schriller Stimme, der Fensterladen schlug trocken drei schnelle Male, und die Luft war dann so frisch, es war so gut und munter plötzlich-zu-leben, die Luft hatte etwas seltsam Herbes, eisig und rein, sie fühlten sich kalt und anregend, überaus neugierig und in der Lage, anderen mit Ironie und feinster Intelligenz kleine, exzentrische und von allen unbemerkte Dinge vorzuführen – gerade noch hielten sie das eine oder andere zurück, mit Gleichgewicht, Funkeln und Lachen. Sie selbst trug eine grobe dunkle Wollbluse. Sie wollten sich gut verstehen mit der Alten, suchten nach Anknüpfungspunkten, sprachen nur von Dingen, die allen dreien gefallen würden, und die Frau

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