Der Lüster - Roman
ihre hellen Beine. Esmeralda wurde von einer brüsken, festen Bewegung durchzuckt, und die Vorhangschnur riss, fiel mit einem fröhlichen kleinen Geräusch auf den dunklen Holzboden. Sie sah eine Weile hin, verblüfft, hart, böse. Plötzlich seufzte sie, schloss rasch die Augen; etwas ruhiger nahm sie die ausgefaserte Schnur, öffnete die Schublade, in der Nadel und Faden lagen, und setzte sich hin, um sie zu flicken.
Doch sie hielt sich nurmehr mit letzter Kraft. Und noch in dieser Nacht ging sie verloren. Sie betrachtete sich im Spiegel; noch sah sie sehr gut aus mit ihren jungfräulichen Hoffnungsfalten. In dem unbeweglichen Gesicht war die gelbliche Färbung süß wie die einer Frucht, die fast schon vermodert; ihre Bewegungen hatten noch eine Lebendigkeit, die angespannt war in einem Maß, wie wohl nur tägliche Verzweiflung und Bedrohung es schaffen konnten. Virgínias Rückkehr hatte ein wenig von dem unsichtbaren Leben der Stadt ins Haus gebracht; ohne es zu merken, glänzte Esmeralda in ihrem Zimmer mit größerer Rauheit; sie wartete mit neuen Reserven. Und als hätte sie sich zu viel zugemutet mit diesem neuen Hauch von Gefahr, konnte sie nicht verhindern, dass ihr Körper Schwung nahm und einen Satz über den Abgrund machte, da alterte sie, als hätte sie bereits geliebt. Am Abend hatte sie mit sorgenvollem Appetit gegessen und aufgeregt gelacht, die weißen, spitzen Zähne zeigend, Virgínia hatte sie gutgeheißen, Daniel war ebenfalls unerwartet freundlich gewesen, die Mutter hatte sich gemütlich im Stuhl zurückgelehnt, während sie selbst mit durchdringendem, ironischem Geist Belangloses von sich gab. Sie lachten wohlwollend, tranken in kleinen Schlucken einen alten Wein, den der Vater aus Brejo Alto mitgebracht hatte. Und auch wenn das niemals sein konnte, was sie hätte erwarten können – nein, weiß Gott nicht! –, wurde sie doch auf eine geradezu heftige Weise lebendig, sie erlebte Stunden düsteren Glanzes, schwer von Versprechungen. Die strahlenden Augen glänzten feucht in den eigenen Körper hinein, so sehr für sich, die Bewegungen einfach und rau – was geschah da mit ihr? Sie gab sich hin. Man wünschte einander gute Nacht, sie ging so müde schlafen, dass der Körper entkräftet auf das große, weiche Bett sank. Sie fragte sich langsam, fast grundlos: Warum eigentlich? warum? Als bekäme sie keine Luft, das Gesicht fiebrig, streifte sie die Kleider ab, und zum ersten Mal legte sie sich nackt zwischen die Laken. Sie schlief ein mit dem Wohlgefühl eines Kindes, erwachte immer wieder in schnellen, vagen Momenten, fast erschrocken, der Herzschlag ohne Rhythmus, das Sein geschwollen. Dann rollte sie sich unter den Laken zusammen, mit einem Frösteln, das aus ihren eigenen Eingeweiden zu kommen schien, unter dem rasenden Klimpern einer Erinnerung, die sich nicht entschlüsseln ließ. Zum Klang der Lebewesen und der Dinge, dass Gott ihr doch das Herz öffnen möge, ihr erlauben, in sich hineinzublicken, und dass sie, wenn die Angst erst vertrieben wäre, dem Tod endlich sagen könnte, ich habe gelebt. Ah, ah, stöhnte sie fast wach. Das Mondlicht tauchte die heruntergeschobene Fensterscheibe in Weiß, zerteilte den Raum in tiefen Schatten und blaue Helligkeit. Fast ohne Bewusstsein fuhr sie mit den Fingern über die feine Stickerei des Kissenbezugs, die sie selbst, sie selbst, sie selbst gefertigt hatte. Ah, ah, stöhnte sie und fixierte dabei wie unter Schmerzen die eisige, unbewegte Luft des Zimmers. Voller Schmerz schlief sie wieder ein, versank im Genuss des Schlafens, den Mund trocken vor Müdigkeit. Am darauffolgenden Tag wurde sie später wach – mit einem Mal eine alte, stille Frau. Sie horchte in sich hinein, während sie sich ankleidete, geißelte sich aus Gewohnheit mit denselben Worten wie am Vorabend, aber sie taten nicht weh. Sie war in eine dunkle Ruhe abgeglitten, die aus Einsamkeit bestand und der Abwesenheit von Qual. Sie ging hinunter zum Frühstück. Ihre Brüste wirkten bescheiden unter der Bluse, von der sie gestern noch so beengt gewesen waren. Ihre Beine hatten einen gelassenen Gang, ihr Herz hatte sich geweitet. Habe ich zu lange geschlafen?, fragte sie sich, ohne zu begreifen. Vergeblich versuchte sie, die Augen weiter zu öffnen, deren Lider geschwollen und schlaff waren. Mit Entsetzen hatte sie ihr Leben schon gelebt.
Sie setzte sich froststarr zum Frühstück an den verlassenen Tisch. Alle waren schon weg. Mit Mühe unterbrach sie sich – das Tor
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