Der Lüster - Roman
aufregende, fast schmerzliche, stumme Wahrnehmung, dass die Stadt sich über die Straße hinaus verlängerte und sich mit dem Rest verband, dass sie groß war, schnell und oberflächlich lebte. Ohne Mühe verwandelte sie das Gehen in etwas, das einem Erreichen gleichkam, die Hutkrempe zitterte, die Brüste zitterten, der große Körper schritt voran. Ihre ernsten Augen lächelten, schwebten voraus, als wüsste sie, dass bei der Berührung durch ihren Körper die Luft nachgab; auf tiefe Weise näherte sie sich den beiden Männern und erfand einen Körper, konfus und zynisch, wie nur eine Frau ihn sich hätte ausdenken können; als unmoralisch würde sie niemand beschuldigen können, und sie ging weiter, bot ihren Körper der Straße dar, kannte ihre Lippen, befeuchtete sie verführerisch, dachte sie sich rot wie Blut, das floss, denn der Augenblick verlangte nach Blut, das floss, hinein in ihr Leuchten als neu geborene Materie. Wie wage ich zu leben?, war freilich der Eindruck, der blieb. Und obwohl ihre Lippen kaum mehr als rosig waren – wem? ja, wem sollte das auffallen? –, gab sie ihnen einen Gedanken, stark wie einen Heiligenschein, und dieser Gedanke war Blut, das floss. Und, bei Gott und beim Teufel!, Vicentes Freund schien zu begreifen. Ja, sie und Adriano teilten sich etwas mit, er schaute, klein, gelassen, sauber und unbekannt, und er nahm wahr und wusste kaum, oh, wusste kaum, dass er wahrnahm – wusste sie nicht, dass sie dachte. Vicente betrachtete sie ein wenig überrascht, während sie sich begrüßten, ließ seine Aufmerksamkeit schweifen, sah dann doch wieder hin, mit Augen, die fast streng waren – denn welchen Ausdruck hätte er für diese Minute verwenden können, wenn die Minute erfunden war? Und er wusste kaum, was er fühlte … er würde tatsächlich sterben, ohne zu ahnen, was geschehen war, aber es vielleicht nicht vergessen … Nein, nichts war pittoresk an diesem Moment, etwas Ruhiges und Altes war rund um den Augenblick. Vicente hatte begriffen, denn er wandte sich ihr zu oder tat es nicht mit der Haltung, die er einzig in Anwesenheit von Frauen annahm, welche er noch nicht besessen hatte und zu denen er noch nie hatte sagen können: Mach die Tür zu, wenn du gehst. Aber am Ende war nichts passiert, nur dieses schnelle Durcheinander von Lächeln und Höflichkeitsfloskeln, dieses befriedigte Unbehagen, geboren aus dem Bewusstsein, dass alles taktvoll so ablief, wie es ablaufen sollte, die Ankunft Virgínias mit erhobenem Kopf und großen Augen … nichts weiter als eine, die spürt, dass ihr das Kleid und der Lippenstift stehen, vor allem, dass sie da sind, eine unerklärliche Haltung von Stolz auf die eigene Weiblichkeit als Frau.
»Du bist heute so ätherisch …«, sagte Adriano mit einem kühlen, glatten Lächeln, so als wäre es seine Pflicht, das zu sagen. Vicente lächelte, die Lichter lächelten, die beleuchteten Gehwege lächelten, Virgínia lächelte.
»Sie war unpässlich, nicht wahr, Virgínia?«
»Ihr wisst ja, wie das ist«, gab sie zurück, »ein Wehwehchen hier, ein anderes dort … und so lebt man dahin«, schloss sie und lächelte übertrieben, schürzte dabei die Lippen, die Männer sahen sie schweigend an.
Selbst wenn es im Augenblick der Begegnung noch gar nicht da gewesen wäre … durch »das« – was Adriano gerade gesagt hatte – war etwas in ihr ein Stück weit aufgegangen und hatte sich der Sorgfalt angeschlossen, mit der sie ihre Kleidung gewählt hatte, und »das« sollte weiterleben für den Rest des Abends, auch nachdem die Blumen schon verwelkt wären. Ebendies hatte sie gebraucht, um die Nacht des Abendessens zu überstehen – wusste sie nicht, dass sie dachte, während sie mit den beiden Männern einen wärmenden und einen kühlen Drink nahm, sie wiederholte es, bevor sie nach oben gingen, und sagte zu sich: Ja, ja. Nachdem sie allen Gästen die Hand gegeben und gelächelt hatte, wurde sie durch die Blicke der Anwesenden dazu genötigt, sich einem Besuch von Irenes boudoir nicht zu verweigern. Um rätselhaft Weibliches in Ordnung zu bringen – gestatteten sie und sahen Virgínia dabei nicht an, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Schüchtern willigte sie ein, fast dick, obwohl Irene zu beschäftigt war, um sie selbst hinzuführen, und Irenes Mann sie über einen langen Korridor geleitete, auf dem zwischen ihnen kein Wort fiel. Fühl dich bitte wie zu Hause, sagte der Mann leise, verlegen, und zögerte, ob er wieder gehen oder
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