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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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und Brötchen aus dem Fenster – und bewahrte so die Macht. Eines Tages, als sie noch klein war, hatte ihr die Lehrerin den Auftrag erteilt, einem Besucher ein Glas Wasser zu holen – ausgerechnet ihr, die in einer der hintersten Reihen saß, der nie Auserkorenen! Bebend vor Stolz, zog sie los, aber auf dem Rückweg, das kostbare Glas an sich gepresst – nicht aus Rache, nicht aus Wut –, spuckte sie ins Wasser und bewahrte die eigene Macht. Was noch?, tastete sie lächelnd, die Augen glänzend vor heißer Liebe, weil sie sich ohne Zuschauer harmonisch und mächtig fühlte in diesem lebendigen, ruhigen Raum. Was noch?, bedrängte sie sanft ihre Trunkenheit. Ein Weinglas bebte in stehenden Funken, das Kristall verband sich nervös und glühend mit dem Lampenlicht. Sie streckte die schmalen, so feuchten Hände aus, nahm behutsam das Glas, als wäre es elektrisch in seiner Zerbrechlichkeit; mit intensiver Langsamkeit ließ sie es aus dem Fenster fallen, den Widerstand ihres Lebens in sich brechend; sie hörte die Splitter singen, geschwind am fernen Zement. Erschrocken warf sie einen Blick Richtung Salon, wo Irenes Gäste versammelt waren: Keiner hatte etwas gehört, die heiteren, leisen Stimmen klangen weiter in einem einzigen Strudel; kein Hausmädchen erschien. Dann war das wirklich sie gewesen?! Ihr eigener Mut brachte ihren Herzschlag aus dem gedämpften Takt der Gläser. Erneut das unaussprechliche Gefühl, sie selbst erschaffe den Moment, der gerade kam … Und sie sei in der Lage, die Folge weiterer Momente anzuhalten, mit einer kleinen, sehr eigenen, kontrollierten Bewegung: nicht den Salon zu betreten! Dass sie das Weinglas zerschlagen hatte, stand in keinem Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit, mit der Zeit, die zur Neige ging, es war ein Moment, der über ihrem Leben stand – sie spürte auf befremdliche Weise, was sie dachte, wie bei einer dieser blassen, törichten Erinnerungen an Dinge, die es nie gegeben hat. Vor allem weil sie von sich selbst getrennt war durch zwei Drinks in feinen Gläsern. Aber eines wusste sie: dass es immer zu spät dazu war, den Salon nicht zu betreten.
    Und in der unleugbaren Wirklichkeit wusste sie, dass sie sich jetzt mit allen anderen in einen der Sessel setzte und sagte: Ach ja!, finde ich auch, danke, und dazu lächelte, Vicente sah, groß, stark und freundlich, wie er seltsamerweise unabhängig von ihr lebte, während sie in den Beinen eine wohlwollende Hitze spürte; und wo, wo blieb ihre süße Macht? jetzt spürte sie in sich ein metallisches und stachliges Insekt von schneidendem Flug. Und wo blieb ihre eigene Spur im Gesicht von Vicente; einer der Gäste sagte rauchend:
    »… Und just damals las ich Das Problem der  …«
    … vergeblich suchte sie einen Punkt in ihrem Körper, der die Lektüre des Problems der … hätte bestätigen können. Und in sich selbst – wer hätte gedacht, dass diese unbedeutende Kreatur sich gerade noch gefühlt hatte wie eine, die sich zurückhält, um nicht von allen geliebt zu werden? und wer hätte das gedacht, das weiße Kleid, das Abendessen, die Blumen waren ein Höhepunkt in ihren Tagen. Aufmerksam folgte sie den Gesprächen, versuchte jetzt, sich intelligent und kultiviert zu zeigen. Bereichert wurde sie durch das unbestimmte Wissen, dass man mit dem Ausdruck »wegen mir« statt »meinetwegen« Nähe verhinderte, man gewann damit eine gewisse ruhige Art, angesehen zu werden. Sie fühlte sich unentschlossen unter all diesen Leuten, die sich so natürlich gaben, so gut gekleidet, mit blitzenden Zähnen. Zwischenzeitlich dachte sie an sich selbst in dem weißen Kleid und straffte sich ein wenig, fand darin Halt; das war der intimste Eindruck von dem Fest. Sie erinnerte sich auch an Granja Quieta, an die Mutter, die mit aufgelöster Frisur durchs Haus lief, ohne Vergnügen oder Kraft. Sie dachte an Esmeralda mit ihren Kleidern voller Putz, die Augen zärtlich und ungeduldig. An den Vater, wie er still das Haus beherrschte und wie er unbeachtet die Treppe hochging. Und an Daniel jetzt, wie an ihn denken?, trübe war in ihm nun die Art, wie sie ihn immer angesehen hatte. Sie erinnerte sich an die vergangenen Tage in der kleinen Wohnung, an die vertraute Empfindung eines müden, erwartungsvollen Elends, das sie in einem letzten Schritt des Niedergangs geradezu ergriffen liebte.
    Ein weiteres Mal ging die Tür auf, und Maria Clara trat ein.
    Die Möbel wurden begreiflich, die Anordnung des grünlichen Salons wankte unter

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