Der Lüster - Roman
einer heißen Halluzination, und dann wären sie nicht mehr in Reichweite. Sie wartete. Mitten aus der weichen Geräuschkulisse kam das konfuse, betäubte Gefühl, das gegenwärtige Leben sei größer als der Tod, und jede Sekunde, die verstreiche, ohne ihn zu bringen, lache über die Angst – fast wieder friedlich, erschrocken, trank sie einen Schluck Wein: Er lebte. Er lebte. Und er war so tapfer. Er würde nichts tun, aber er war tapfer wie ein Choleriker, wie ein Eroberer. Er würde nie einen Finger rühren, um jemanden zu retten, vermutlich nicht einmal ein Kind, aber er war großzügig, so wie auch sie leben würde, ohne sich zu regen. Und so stolz … Es gab nichts, wozu er sich nicht für fähig gehalten hätte, aber aufgrund einer rätselhaften Kraft würde er nichts tun. Sie sah vor sich in eines der Gesichter, die auf so reiche Art gewöhnlich waren, sah den Lippenstift, lebendig auf der blassen Haut, ein sinnliches, schnelles Begreifen. Alle kannten sich schon seit langem und unterhielten sich pausenlos in mittlerer Lautstärke. Wie leicht alles wird, wenn man trinkt, Vicente – wie hätte es ihr sonst so gutgehen können, während sie spürte, wie der Glanz der eigenen Augen zwischen ihr und den Gegenständen schwebte?, ein fast schon unsittliches Gefühl in den Beinen, die süß waren vom Wein. Sie lebten von den Kenntnissen, die sie hatten, benutzten, was sich benutzen ließ. Irene strahlte wieder über dem dunklen Stoff, die Glatze ihres Mannes stellte liebend gerne die Frage: »Sag mal, zieht es dir nicht?«, allerdings auch ein wenig traurig, Irene war aufmerksam, begierig, geistreich und hart, mit kurzen Haaren, er war aus menschlicherem Stoff. Sein ganzes Leben lang war er wohl Sohn gewesen, Bruder. Und jetzt Vater. Alle, einschließlich der Frauen, hatten eine Besonderheit in ihrem Wesen, in ihrer Vergangenheit oder im Beruf – und kraft dieser Besonderheit pflegten sie Umgang und lachten. Sie sprachen gern über ihre Probleme. Einzig Maria Clara, deren Geschichten sie mit Freude gehört hätte, redete nicht über ihre Arbeit, über das Malen von Blumen auf Tonkrüge, die sie in Privatsalons ausstellte, für geladene Gäste, einzig Maria Clara mit dem etwas breiten Gesicht und den großen, runden Augenringen, die lila waren und ohne Schmerz, rauchte sogar am Esszimmertisch, die feuchten Zähne entblößt. Vicente, wo ist Vicente?! wie ein Kind, das nachts aufwacht, im Dunkeln sitzend, Mama, Mama ruft und sich mit schlaftrunkenen Händen über den Körper streicht. Da war er!, er schämte sich dafür, dass sie nicht so war wie er, oh, Rätsel – Vicente wandte sich an die Körper Irenes und Maria Claras mit der beherrschten Ehrerbietung, die er für Frauen bereithielt, welche er noch nicht besessen hatte: eine Art Respekt, dachte Virgínia zerstreut, als glaubte er sie zu entwürdigen, wenn er sie besaß. Aber nein, nein: Dasselbe Wort, das sich jetzt geradezu in ihr geäußert hatte: Rätsel, erklärte es. Rätsel des Weiblichen, Rätsel einer Frau, deren Sohn im gestreiften Schlafanzug nun schlief, Rätsel einer Frau, die ohne glänzenden Lippenstift vielleicht unfähig gewesen wäre, laut zu lachen und dabei den glatt frisierten Kopf in den Nacken zu werfen vor Lachen oder vor Müdigkeit – und während der Kopf im Nacken lag und der Hals vor Lachen bebte, begannen die Augen sicherlich, an etwas anderes zu denken, was gewiss weit weg war, denn sie neigte ein Ohr fast angespannt in den Raum. Was nichts daran änderte, dass das Lachen noch an sein Ende kam:
»Oh, nein!«, sagte Maria Clara kopfschüttelnd und lachte mit den etwas zu großen und vorstehenden Zähnen, auf denen der Speichel blitzte. Aber Virgínia wollte das alles nicht bemerken, sie war unterwegs zum Schlusspunkt einer Empfindung, sie trieb sich an: Nein, nicht groß, dachte sie, schonungslos zu sich selbst, und beobachtete dabei Vicentes heiteren Blick, hell und fein sind sie. Es war schrecklich, Maria Clara so durchdringend zu spüren und zu wissen: Hätte Vicente sich nicht davon angezogen gefühlt, dass es sie gab, so hätte sie, Virgínia, ihn dafür verachtet, und zwar liebend gerne. Wäre er zu der Dicken geflüchtet, so hätte sie nicht gelitten und ihn auch nicht wieder angenommen … Ja, dachte sie mit einer Überraschung, die sie sich nicht anmerken ließ, ja, dann wäre sie endlich frei. Wäre er zu Maria Clara gegangen, hätte sie gelitten und auf ihn gewartet und ihn aufgenommen, wenn er wiederkam. Sie
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